Volker Saul: Katalogtext zu: Volker Saul. Hrsg. von Stefan Rasche, Münster und Gabriele Rivet, Köln. 2002
"Körper in Farben vor Zeichen nach Schrift." Von: Jens Peter Koerver.
 

Zwischen Zeichen und autonomer, assoziationsträchtiger Form angesiedelt sind die Skulpturen Volker Sauls. Jede dieser plastischen Arbeiten resultiert aus einer zeichnerischen Geste – bei entkörperlichender Frontalansicht scheint diese grafische Herkunft deutlich auf. Reste, Vorstufen, Nachklänge von Schrift, diese körperlose aber vom Körper durch diffizile Handbewegungen hervorgebrachten Lineaturen sind ihnen anzusehen. Aus der Schriftgeste wird eine plastische Linie, aus den Bewegungen, Schwüngen des Zeichnens entstehen die Biegungen, das Ausgreifen und Schlängeln der Plastiken. Das Fast-Nichts eines grafischen Notats wird nach bestimmten Regeln – Konturen verlaufen einander bestärkend exakt parallel, die Körper sind stets doppelt so hoch wie breit, sie beginnen und enden in einem exakten Halbrund – zur dreidimensionalen Skulptur transformiert. Ihnen allen gehen zahlreiche Linienstudien mit direkt aus der Tube auf Papier aufgetragener Farbe voraus, die in einem langwierigen Klärungs- und Findungsprozess geprüft, präzisiert, schließlich als plastische Körper aus geschichtetem MDF realisiert und abschließend mit einer Farbhaut aus Acryl versehen werden, die sich aus einem einzigen Ton oder Weiß und maximal drei Bunttönen – stets ungemischten, „fertigen“ Farben, wie sie die Hersteller anbieten – aufbaut.
Alle, die konstruierten („you c“) wie die frei entwickelten deuten Schrift, Schriftgesten an, einige sind lesbar („smax“) andere dürften mit einzelnen Buchstaben zu tun haben, wieder andere könnten ein grafisch-plastisches Äquivalent für zeilige Reihungen, Blindtext sein. Lange blieb dieser Subtext der Arbeit diskret verborgen, wird in jüngeren Arbeiten aber offensiver als plastisches und inhaltliches Potenzial ausgelotet. Und so spielen sie deutlicher an auf Schrift, spielen mit ihr, umspielen sie als flüssige, freie Geste und selbst noch in den weit vom Lesbaren entfernten, komplexen Körpern ist der Impuls einer befreiten Schrift, eines Zeichnens nach oder vor den Zeichen zu ahnen. Ebenso spielen sie mit der Möglichkeit von Bedeutung, deuten sie an, versprechen sie. Denn auch einer unleserlichen Schrift, einem unbekannten Alphabet kommt – wie erst recht einem identifizierbaren Buchstaben, einem ganzen Wort – Bedeutung zu. Sie alle sind absichtsvoll ins Leere laufende Bedeutungsandeutungen: nicht was „smax“ oder „FPS“ ist, vielmehr was es sein könnte (Comicfigur, Schokoriegel, Erfrischungsgetränk, Modemarke, Web-alias – nichts ist unmöglich). Lässt die Gestaltung des Schriftzuges an ein trendfreudiges Logo denken, so ist bereits das klangvolle „smax“ selbst zeitgenössisches Sprachdesign, ein Markenname ohne Produkt. Dann aber wird man die Buchstaben übersehen (wenngleich die Prägung durch Schrift sich als hartnäckig erweist, das Auge ist ein Gewohnheitsorgan), aus dem Lesen wird Betrachten und allmählich wird die Skulptur sichtbar.
Wie selbstverständlich stehen die Formen vor Augen, einleuchtend, in mancher Hinsicht vertraut (ein Echo der Schrift). Sie kommen aus der Bewegung, konzentrieren sie und geben sie als Impuls weiter. Sie wirken biegsam, geschmeidig, schwingen sich leichthin in Rundungen, Wellen, Buchten, organisch-lebendig konturierte Formkörper, halten nicht still. Kein Relief, sondern auf und mit der Wand oder dem Boden agierende Skulpturen. Das sie augenscheinlich erstarrt sind, könnte auch ein Zufall sein, eine Tarnung, ein Trick, und kaum haben wir ihnen den Rücken zugekehrt, beginnen sie wieder ihr Eigenleben, dehnen sich, ziehen sich zusammen, tasten, schieben sich voran. Sichtbar ist, so könnte man meinen, nur ein vorübergehender Zustand, die Option zur Selbst- und Weiterverwandlung, latente Beweglichkeit ist ihnen anzusehen; jede von ihnen könnte anders sein, wird anders werden. Und die Farben sind Katalysatoren dieser Suggestion.
Stets sind die plastischen Arbeiten Volker Sauls farbig, nie materialsichtig. Klare, strahlungsstarke Töne bekräftigen den Fluss der plastischen Linie, heben bei einfarbigen Stücken den Körper signalhaft vom Grund, dem mitunter in einem kontrastierenden Ton gestalteten Fond ab: markante Allianzen von Skulptur und Fläche, plastische „Wandbilder“. Und selbst das vermeintlich neutrale Wandweiß wird durch einen wohlplatzierten Formkörper (und weit stärker noch durch mehrere) zur Spielfläche, zum virtuellen Handlungsfeld, die Arbeit macht sich auf ihre Art den Ort zu eigen. Und dort, wo Raum und Fläche teilweise umschlossen oder als prägnanter Bereich zwischen mehreren, miteinander agierenden, aufeinander reagierenden Körpern artikuliert wird, dort kann die Wandfläche selbst zur Form, für den Augenblick zur Figur werden, wird der Zwischenraum als interner Spannungsbereich, als gefüllte Leere, als eigenwertige Raumform wahrnehmbar.
Im Jahr 2001 wurden, vorbereitet durch zahlreiche Papierarbeiten, aus der einen Farbe mehrere Farben, wurden aus den homogenen, materialneutralen Oberflächen der Skulpturen lebendige, komplexe Strukturen. Die brillante, leuchtende Farbigkeit der seitdem entstehenden Arbeiten könnte eine Qualität des Materials sein, aus dem sie vollständig zu bestehen scheinen. Nicht eine nur den Kern verdeckende, aufgetragene Farbe, sondern eine zwischen Natur- und Kunststoff oszillierende massive Substanz. Augenscheinlich durchdringen Farben und Struktur die Körper vollständig, als wären sie aus Blöcken mit eben dieser stofflichen Beschaffenheit herausgeschnitten worden und müßten sich in ihrem Inneren diese Äderungen, Strukturen, diese Farben fortsetzen.
Wie eine künstliche Maserung, eine artifizielle Sedimentation erscheinen die gestromten, parallel verlaufenden, mal mehr mal weniger regelmäßig zwischen Farben und Weiß abwechselnden Verläufe. Sie folgen dem geschmeidigen Fluss der plastischen Form, vollziehen Krümmungen nach, beschleunigen den Blick oder nehmen bremsend in leicht abweichender Weise die Kurven und Buchten auf, dann aber widersetzen sie sich dem Körper, konterkarieren Richtungen, Ausrichtungen. Wie ein Gegenstrom zu den Kräften der plastischen Großform agieren die Farben stellenweise mit ihren eigensinnigen Impulsen. Wo dies geschieht, kommt es zu potenziellen Weitungen des realen Körpers. Der abweichende Impuls deutet eine virtuelle Ausdehnung, einen alternierenden Formverlauf an. Die Farbzeichnung entwickelt ihr eigenes Kräftespiel, richtet sich mitunter gegen ihren Träger, wirkt wie eine Nach- und Gegenzeichnung zur präzisen und hart geführten Kontur des Körperverlaufs.
Eine all-over-Struktur kennzeichnet auch die zweite Variante des Arbeitens mit mehreren Farben. Gleich einem Dripping überziehen sie die gesamte sichtbare Oberfläche; Bildet eine grafisch komplexe Topografie aus Kavernen, Archipelen, Einsprengseln, Einlagerungen. Seiner Struktur nach könnte dieses Fleckenmuster der Natur zur Tarnung dienen, die leuchtende Farbigkeit aber verwandelt es in ein Aufmerksamkeit bindendes, kostbar und ausgefallen erscheindendes visuelles Ereignis. Diese Farbigkeit verzichtet auf Richtungsverläufe, entfaltet sich als reiche, kleinteilige Miniatur, lockt zur Betrachtung aus nächster Nähe. Weniger als nachdrücklicher, an den Formverlauf gebundener Bewegungsimpuls, denn als verhaltene Vibration, als ein Flirren oder Flackern wirkt diese Struktur. Tastender, langsamer ist der Blick. In einer allmählichen, schwebenden Bewegung gleitet er zwischen den zahllosen Farb- und Formereignissen hin und her, denn keine der Zufallsformen wiederholt eine andere; die Schaulust gilt dieser Fülle und Vielfalt.
Ein Kernstück der Farbarbeiten ist eine offene Serie von in drei Rottönen gestromten Stücken. Ihre Formen variieren das Prinzip vergleichsweise einfacher, fließender Lineaturen und operieren mit Verweisen auf eine gestische Schrift, meist nicht eindeutig lesbaren Buchstaben. Sie bilden ein bewegliches Ensemble. So können einzelne Stücke herausgenommen und durch andere ersetzt werden, auch ist der Umfang dieses work in progress nicht festgelegt und kann noch erweitert werden. Abhängig von den örtlichen Gegebenheiten sind Präsentationsform und Abfolge der einzelnen Stücke, jedoch sollen sie stets nebeneinander, auf eine gedachte Mittelachse bezogen platziert werden. Nicht nur der geringe Abstand zueinander, sondern auch der ihnen allen gemeinsame Rotakkord und die bewegt-flüssige Farbgestalt verbinden sie zu einem vielteiligen Ganzen. Dessen Binnengrenzen verschwimmen, werden zu durchlässigen Übergängen, sodass für den gleitenden Blick die Individualität der einzelnen Elemente zurücktritt. Auch soll weder die Nähe zum Ornamentalen, noch der Eindruck einer plastischen Schrift vermieden werden, diese jedoch erweist sich schon durch die Fülle der Einzelzeichen als unentzifferbar, schließt Lesbares von vornherein aus.
Mit den mehrfarbigen Skulpturen verschiebt sich die Aufmerksamkeit. Galt sie bislang der Form und war die jeweils eine Farbe vor allem Mittel, um dem Körper Prägnanz zu verleihen, so entsteht nun eine Konkurrenz zwischen der großen Bewegung der plastischen Form und den von den Farben und ihrer jeweiligen Struktur erzeugten kleinteiligen Binnenereignissen. Der erste Blick gilt den Farben, ihrer eigenartigen, uneindeutig zwischen künstlich und natürlich angesiedelten Materialität. Das Auge folgt zunächst den Verläufen, der Zeichnung der Farbe und vollzieht dabei unwillkürlich die plastische Form nach. Nur allmählich tritt der Körper ins Bewusstsein, aus einigem Abstand wird die plastische Form, ihre jeweilige Gestalt wahrgenommen.
Die Farben infizieren den Körper mit einer eigenen Energetik, einer visuellen Unruhe, mit Temperaturschwankungen und ihren eigenen, ihm mitunter zuwider laufenden Bewegungsimpulsen. Zudem irritieren sie die gleichmäßige, glatte Oberfläche der Skulpturen mit einem Mikrorelief aus optisch vor- und zurückschwingenden, -springenden Farben. Schließlich perforiert den Körper das zwischen den Bunttönen stehende Weiß, macht ihn durchlässig und leicht. Stellenweise der Farbe der Wand ähnlich, verliert er durch sein Weiß an Kompaktheit (So widersprechen die Farben und das mit der Wand verbündete Weiß dem Körper, attackieren und bereichern ihn zugleich).
Die Komplexität der neuen farbigen Arbeiten führt, verführt zu einem differenzierten und beweglichen, vielfältige, mitunter konträre Aspekte integrierenden Wahrnehmen; sie sind Animationen für die Intelligenz des Auges.