Volker Saul

Jens Peter Koerver: Volker Saul: Doppelte Tiefe / Pas de deux

In: Kölner Skizzen. 21. Jahrgang. Heft 3/1999 .

Auf der Wand haben sie leichtes Spiel. Obwohl die dunklen Körperlineaturen massiv, starr von unbestimmbarer dichter Materialität –Metall oder schweres Gummi– zu sein scheinen, wirken sie biegsam, beweglich, formbar. Trotz scharfer, exakt parallel laufender, einander bestärkender Kanten schwingen sie sich leichthin in Rundungen, Wellen, Buchten, laufen halbrund aus: organisch konturierte, geschmeidige Formkörper. Doppelt so hoch wie breit ist eine jede dieser körperhaften Linien, linearen Körper, kein Relief, vielmehr auf und mit der Wand agierende Skulptur. Wohlerwogen kombiniert, exakt aufeinander bezogen, bilden je zwei. Körperformen ein plastisches Doppelstück. Zehn Paare umfaßt bislang die in diesem Jahr entstandene, noch nicht abgeschlossene namenlose Werkgruppe. Jedes Teilstück für sich ist Modul, kann mehrfach, gleich, einem skulpturalen Baustein, verwandt werden und sich in unterschiedlichen Konfigurationen entfalten. Der augenfällige Zusammenhang der gesamten Reihe ergibt sich aus übereinstimmender Materialität und Farbigkeit, Maßgleichheiten, der immer Paarweisen Anordnung bei vertikaler Ausrichtung und enger Gestaltverwandtschaft aller Elemente.
Jeder einzelne Körper resultiert aus einer zeichnerischen Geste - bei entkörperlichender Frontalansicht scheint diese graphische Qualität deutlich auf. Ihnen allen gehen zahllose Linienstudien Volker Sauls mit direkt aus der Tube auf Papier aufgetragener Farbe voraus, die in einem langwierigen Klärungs- und Findungsprozeß geprüft, präzisiert und in der Kombination und Konfrontation mit anderen Formen ihr Pedant erhalten und schließlich als plastische Körper aus geschichtem MDF realisiert werden.
Selbst aus der Nähe: nie halten sie still, denn fortwährend arbeitet das Licht mit ihnen. Reflexzonen springen, wandern, gleiten, überziehen das Schwarz mit hellem metallischem Schimmer, blitzen manchmal auf. Und eben noch Helles, Glänzendes sinkt zurück in stumpfes Dunkel. Obgleich die Oberfläche hart, gespannt wirkt, öffnet der vielfältige Widerschein des Lichtes das massive Schwarz, erleichtert es und macht es für einen Augenblick durchlässig, als strahle von Innen verhaltenes Licht. Mit jedem Schritt, mit jeder Bewegung wandert der Widerschein des Lichtes. Mit jeder Lichtveränderung verwandelt sich das tiefe Schwarz, zeigt sich anders, werden im Schlimmern und Scheinen Spuren sichtbar: die die Oberfläche strukturierende, frei rhythmisierende Handarbeit, das immer wieder mit dem Spachtel aufgetragene und geschliffene Schwarz; eine Lichtspielhaut.
In steter Verwandlung: Biegen, Dehnen und Beugen, Anspannen, muskelgleiches Zusammenziehen. Mit jedem Blick verlebendigen sich die Körperlineamente, überspielen den anorganischen Charakter der Oberflächen, verführen den Blick zu Spekulationen, zum Zusehen. Wer so sieht, sich auf das Augenspiel einlässt, wird mehr wahrnehmen als die bloße Faktizität zweier organisch geformter schwarzer Bänder von bestimmter Tiefe, Breite und Länge.
Jederzeit scheint eine Bewegung, eine Verschiebung möglich, jeden Augenblick können sie sich rühren. Mit jedem Augenblick nimmt das Schauen unwillkürlich die Impulse, die Suggestionen auf, setzt fort, was ihm diese Dinge an der Wand nahe legen: nicht still zu halten, sich zu strecken, zu krümmen, in fließenden Bewegungen eine andere Stellung einzunehmen.
Selbst wo Gegensatz, Abwendung vorrangige Benennungen für das komplizierte Geschehen zwischen zwei Teilstücken wären, gibt es eine Einheit, eine (verdeckte) Relation zwischen den Formen, einen Bereich außerordentlicher Nähe, eine Parallelführung, einen gemeinsamen Raum, der sie aufeinander bezieht, zusammenbindet. Alles Winzigkeit und sie könnten den Durchlaß, jene Kluft zwischen ihnen, überbrücken und zu einem geschlossenen Band, zu einer einzigen Bewegungsform werden. Mal streben sie mit Macht auseinander, wirkt eine Abstand gebietende Kraft zwischen ihnen; immer haben sie miteinander zu tun.
Gesten, Körpergesten, ein spannungsgeladenes Reaktionsverhältnis: dass jede Arbeit ein einzelner eingefrorener Moment aus einer Kette von Ereignissen und Formbewegungen zu sein scheint und Anderes, Folgendes, Vorhergehendes verkapselt, als Möglichkeit in sich eingeschlossen, als Impuls und Andeutung, als assoziative Vorwegnahme noch, schon enthält. So ist in ihnen die Zeit über den Augenblick hinaus gespeichert: es könnte anders sein, wird anders werden. Wie von selbst stellt sich eine Kaskade möglicher Benennungen, Zuschreibungen für das Geschehen zwischen den Körpern, ihr Agieren ein. Für den Augenblick verliehen und im nächsten Moment wieder abgelöst durch andere Begriffsversuche. Dem Vorübergehenden, Momentanen entsprechen vorläufige, veränderungsbereite Begriffe: schwingen, winden, kriechen, strecken, vorantasten, abwenden, zuwenden, umfassen, zurückweichen, dehnen, erstarren, abwarten, vorschnellen, drohen, belauern, umwerben ... In jedem Fall ereignet sich etwas zwischen ihnen: leerer Raum. Dort, wo nichts zu sehen ist, ist etwas zu bemerken. Zwischen den Körperdingen verdichtet sich nicht allein die weiße Wandfläche zur selbständigen Form, sondern entsteht eine drei-dimensionale Zone, ein geformter, eigenwertiger und eigensinniger Raum. Proportion und Größe der Doppelstücke sind so gewählt, dass sie ein Volumen bilden, das vom Betrachter als räumlich, als etwas ihm Gegenüberstehendes empfunden wird.
Massiv, physisch präsent sind diese raumgreifenden, Raum umschließenden aber nicht einschließenden Körper; Dinge auf der Wand. Und zwischen ihnen bildet sich eine plastische Raumform. Dieser Verhältnisraum ist instabiler, flüssiger als die ihn definierenden Formen: erst auf den zweiten Blick, mit einer Aufmerksamkeitsverschiebung, hebt er sich von den umgebenden Körpern als ein Anwesendes-Abwesendes ab, bringt ihn seine Umgebung wie nebenbei hervor. Ein organisch geformter Dazwischenraum mit Buchten, Engen Ausstülpungen, nicht allseits begrenzt, nach oben und unten bleiben Durchlässe, Öffnungen zum Umraum, Übergänge zur Wand der Spielfläche und dem Aufenthalt des Doppelstücks. –Ku-kann ist im Japanischen das Wort für >Raum<, zusammengesetzt aus ku, der >Leere< und kann, was >dazwischen< bedeutet.
Mit jeder kleinen Bewegung des Betrachters, mit jeder Änderung des Lichts verwandeln sich diese Arbeiten. Ebenso mit jedem über ein bloßes Konstatieren hinausgehendem Wahrnehmen. Erst ein fortsetzendes, handelndes Sehen transformiert das Minimum an Impulsen, Hinweisen, Vorgaben in ein Maximum an Lesarten, Metamorphosen. Reduzierung als Stimulans, s Wahrnehmungsintensivierung ergibt sich aus der Balance von Strenge, Präzision und spielerischer, freier Bewegung, Systematik der Mittel und deren undogmatischer Anwendung. –Ereignisse, Vorgänge haben Zuschauer, die Betrachter der Arbeiten Volker Sauls werden zu Hinzuschauern.