Volker Saul

Miriam Hübner: Zeichnung

In: Grafische Betrieb Bacht, Essen (Hrsg.): Volker Saul Mixes and Remixes. Rheinisches LandesMuseum. Bonn 2005.

„Ein Weiser schätzt kein Spiel, wo nur der Zufall regieret.“
Gotthold Ephraim Lessing (1729-81)

Im traditionellen Verständnis des malerischen Schaffensprozesses steht die Zeichnung am Anfang. Die klassische Gattungshierarchie räumt ihr daher auch eine bescheidenere Stellung ein und misst ihr häufig reinen Entwurfscharakter bei. Bestenfalls wird die Zeichnung als spontaner Ausdruck des künstlerischen Genies gefeiert, während erst das in Öl gemalte Opus den Anspruch des vollendeten Meisterwerks genießt.
Zeichnungen bei Volker Saul hingegen bilden vielmehr die Grundbausteine seiner Kunst, sind Bezugspunkte. Dabei macht der Titel „Mixes and Remixes“ bereits deutlich, dass es um das Verhältnis zweier Zustände oder Erscheinungsformen geht.
Seine Zeichnungen sind abstrakte Formfindungen, lineare Gebilde, mäandernde Geflechte, die Volker Saul in zeichnerischer Manier auf Papier bannt. Von besonderer Bedeutung ist dabei Sauls spezielles Verfahren: Anstelle traditioneller Zeichengeräte wie der Tuschefeder, eines Zeichenstiftes oder eines Pinsels hat er 1988/89 während seiner Schaffensphase in Kunst-Station Sankt Peter zu Köln die Farbtube als Zeichenmedium entdeckt – die Farbe wird gleichmäßig aus der Tube gedrückt und in sanft schwingenden Bewegungen über den Zeichengrund (extrem saugfähiges 170-g-Karton-papier) geführt. Dabei lenkt er den konzentrierten Fluss der Tubenfarbe in stets gleich bleibender Breite über das Papier, höchst absichtsvoll und bedächtig, nie impulsiv oder emotionsgeladen. Anders als die meisten herkömmlichen Zeichnungen, die vom nervösen Tasten des Formfindungsprozesses leben, setzt Volker Saul seine Tube vor der Fertigstellung nur selten ab und verzichtet auf jegliche malerische Effekte. Im Gegenteil: Er ringt den Linien eine absolute Eindeutigkeit und Endgültigkeit ab, lässt im Ergebnis nur glasklare, grafisch sauber laufende Spuren zu.
Dies hat stets langwieriges Experimentieren zur Folge, mühsame „Versuchsanordnungen“ gehören zum Prozess aus Finden und Verwerfen, Erproben und Entdecken, aus dem gleichsam destilliert die perfekte Linienform gewonnen wird.
Weiß man um diese Methode, wird bald klar, dass Saul sich gleichermaßen mit den Komponenten Zufall und Kontrolle auseinander setzen muß: Zunächst erheben seine zu amorphen Gebilden geronnenen Linien keinen Anspruch auf irgendeine Form von Darstellung, weder im naturalistischen noch im realistischen Sinne. Und doch erstickt die konkrete Natur der Linie nicht im Formalismus. Volker Saul negiert nicht das zufällige Entstehen subtiler narrativer oder figurativer Elemente: Linien schließen sich zum ewigen Reigen oder verharren merkwürdig offen, brechen um imaginäre Kanten, bilden Ringe oder sondern sich zellartig ab. Zufall und Kontrolle generieren so bizarre, geisterhafte Wesen, nur grundstimuliert von fernen Anleihen aus der realen Formenwelt. Und dennoch sind keine reinen Zufallsprodukte intendiert, wie sie durch den inszenierten psychischen Automatismus die kontrollierte Subjektivität abzustreifen und als „Medium“ des Unterbewussten einzusetzen suchten. Volker Sauls Linien gehorchen letztlich dem Kalkül, der Lenkung durch die schöpferische Instanz.