Volker Saul

Gérard A. Goodrow: Volker Saul Maximaler Minimalismus

In: Günther und Carola Peill Stiftung (Hrsg.): Volker Saul. Leopold-Hoesch-Museum Düren. 1992

Während der vergangenen fünf Jahre verfolgte Volker Saul mit seiner Kunst einen unbeirrbaren Weg der Simplifikation und Reduktion: Von „All-Over-Paintings“ mit automatischen Zeichnungen auf weiten Farbflächen bis hin zur Isolation und Magnifikation individueller Zeichen als unabhängige Formen, entweder unmittelbar an die Wand gemalt oder mittelbar, in Form von aus Holz ausgeschnittenen, eigenwillig geformten, monochromen Tafeln. Sauls neueste Arbeit (ich zögere ein wenig, es eine Apotheose zu nennen, denn wann immer ich ihn in seinem Atelier besuchte, schien es mir, als habe er gerade ein neues künstlerisches Paradigma erreicht und ich bin mir sicher, er wird mich beim nächsten Mal nicht enttäuschen) ist, so könnte man sagen, eine mögliche Kulmination (gewiß gibt es auch andere) von fünf Jahren hingebungsvollen Experimentierens.
In Sauls jüngsten Arbeiten ist die Farbe vollständig eliminiert worden, achromatische Gemälde also – wobei Weiß schließlich eine Unfarbe ist, beziehungsweise alle Farben des Spektrums in sich vereint: Wissenschaftlich betrachtet wird Weiß durch die Reflexion aller farbgebenden Strahlen erzeugt. Sauls Gebrauch von Weiß als eine „neutrale“ Farbe für seine geformten Tafeln legt – vom Prinzip her gesehen – viel größere Betonung auf die Form an sich, welche ihrerseits somit noch einmal komplexer wurde mit ihrer Myriade von Ecken und Bögen. Wenn Weiß dazu benutzt wird, werk-externe Assoziationen und Interpretationen auszuschließen, (wobei man argumentieren kann, daß Weiß ebenso assoziativ ist wie jede andere Farbe, z.B. als Symbol etwa für Reinheit, Gutheit, Jungfräulichkeit und vieles andere mehr) dann eröffnet die komplexe Formgebung seiner Arbeit ein nahezu unübersehbares Spektrum von Assoziations- und Interpretationsmöglichkeiten. Das traditionelle Ziel des Minimalismus – nämlich Kunst auf das Essentielle zu reduzieren und metaphorische Interpretationen zu verweigern – ist möglicherweise de facto unerreichbar, da schließlich jede Interpretation subjektiv ist (Objektivität ist schließlich ein modernistisches Märchen). Ganz besonders dann, wenn, wie am Beispiel des Post-Modernismus, dem Betrachter seine individuelle Autonomie gewährt wird und sich somit eine reziproke Abhängigkeit zwischen Betrachter und dem Betrachteten entwickelt.
Der Künstler setzt seine Arbeit innerhalb des Spannungsfeldes zwischen Ordnung und Chaos fort, wobei letzteres ausdrücklich nicht als ein Negativum im metaphorischen Sinne verstanden werden darf, sondern eher im Sinne der jüngsten Chaostheorie und –forschung, die zu weiten Teilen auf Benoit Mandelbrots Konzept des „Fraktalen“ beruht. Nach John Briggs und F.David Peat: „Das künstliche Wort ist vom lateinischen ‚frangere’ abgeleitet, das ‚brechen’ bedeutet. Auch die Anklänge an ‚gebrochene’ Zahlen und an die Unregelmäßigkeit von ‚Fragmenten’ bestimmten Mandelbrots Wortwahl“. Das Fraktale bei Mandelbrot ist die Grundlage einer neuen Geometrie, die in den vergangenen 30 Jahren in der Lage war, alle Felder der wissenschaftlichen und der kreativen Aktivität zu beeinflussen. Fraktale sind bei der Beschreibung der (regulären) Irregularität der realen Welt dienlich, etwa bei der Erklärung des Verlaufes der Linien von Küsten und Wolken, von Flüssen und menschlichen Zirkulationssystemen, von Polymeren und Galaxien. Was zunächst unregelmäßig und chaotisch scheint, ist de facto das Ergebnis dessen, was Mandelbrot „Selbstähnlichkeit“ nennt. Gemeint ist damit „die Wiederholung des Details auf immer kleineren Skalen“.
So wie diese Naturphänomene können auch Sauls Formen im Sinne der fraktalen Geometrie betrachtet und verstanden werden. Sie sind das Resultat von hunderten, wenn nicht gar von tausenden kleiner Zeichnungen und Skizzen. „Würdige“ Formen werden aussortiert, isoliert und vergrößert. Was auf den ersten Blick eine einzigartige, zufällige Form zu sein scheint, enthüllt sich alsbald, im Kontext betrachtet, als Teil eines Kontinuums, als nur eine von einer scheinbar unbegrenzten Anzahl ähnlicher Formen. Teile bestimmter Formen reflektieren das Ganze der Form an sich, sowie jede einzelne Form das Konglomerat der Formen reflektiert, die diese Ausstellung ausmachen.
Der konstante Fluß zwischen Teil und Ganzem, zwischen Form und Anti-Form, zwischen Chaos und Ordnung wird auch weiterhin Volker Sauls Kunst bestimmen. Minimalistisch einerseits, in seiner strikten Reduktion von Form und Farbe, ist er doch gleichzeitig auch Maximalist durch seine barocken Elemente und seine Offenheit in Bezug auf die Autonomie des Betrachters. Wenn die Rigidität der Minimalisten der 60er Jahre eine allgemeine Angst vor dem unmittelbar bevorstehenden „Tod der Malerei“ auslöste, dann demonstriert Volker Saul deutlich, daß die Malerei immer wieder neu geboren wird.

Übersetzung aus dem Amerikanischen
Andreas Frisch, Köln
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