"Einfach endlos. Zeichnungen von Bohrmann in der Neuen Pinakothek in München." In: Süddeutsche Zeitung vom 22. Oktober 1997.
Ausstellungsbesprechung von Dorothea Baumer.

An diesen Zeichnungen ist alles Auge und Hand. Wie ein Süchtiger läßt der Künstler den Blick schweifen. Er fixiert Naheliegendes und holt Erinnerungen heraus. Der Strich fließt einfach und drängt nach Wiederholung. Aus der Leere entspringt die wunderbare Entfaltung des Tuns. So sind in den letzten Jahren die Zeichnungsserien der "Leitern" und "Bäume" entstanden und das kühne Unternehmen der "Akte". Vielleicht muß man erst wie Karl Bohrmann an die siebzig Jahre alt werden, um in der Kunst dieses souveräne "wie zum erstenmal" zu erreichen; um so wenig vordergründig die Schönheit zu suchen.
Karl Bohrmann ist in München kein Unbekannter. Günther Franke stellte ihn aus und später Bernd Klüser. Mit einer großen Retrospektive seiner Papierarbeiten würdigte das Lenbachhaus den Zeichner, Maler und Photographen, der stets unauffällig, einzelgängerisch und jedenfalls unabhängig von den Tagesaufgeregtheiten der Szene seiner Arbeit nachging. Aber das war schon 1981. Grund genug für die Graphische Sammlung, diese kleine exzellente Ausstellung vorzubereiten, die den Blick auf das radikal-zeichnerische Konzept lenken will und dies mit feinen Exponaten der Sammlung Ingrid Welle tut.
Schön in einem herkömmlichen Sinn waren diese Blätter nicht. Alles an ihnen suggerierte Beiläufigkeit. Das Format war bescheiden, die Linie schmucklos ruppig, minimal die Veränderungen. Aus der puren Motorik eines Auf und Ab erwuchsen silhouettierte Erinnerungsbilder von Bäumen. Das banale Holm-Sprossen-Motiv schlägt räumliche Breschen. Ohne Programm, ohne Psychologie, ohne modischen Bewußtseinsschwulst ereignet sich hier etwas zwischen Sehen und Lesen: Zeichnen.
Ein Akt ist ein Akt ist ein Akt. Mit lapidarer Monumentalität beschwört Karl Bohrmann in Hunderten von "Wiederholungen" immer nur eines: das Geheimnis der Erscheinung, Akte liegend, hockend, sich entkleidend in vieldeutig organisierten Räumen und in unendlicher Folge. Das Ausbreiten wird zur Essenz. Zeichnend übt Bohrmann seine Hand im Weglassen. Zeichnend trägt ihn seine Erinnerung hinaus, öffnet eine einzige Linie atemberaubende Weite. Wie Matisse zwingt er die Hand, die angelernten Gesten zu vergessen. Wie sein Lehrer Willi Baumeister sieht er zu, was aus dem Material entstehen will. Wie beim hochverehrten Morandi vibriert die lichthaltige Linie.
Bohrmann zeichnet mit einer Losgelöstheit, als ob die Hand sich selber führte. Er beginnt mit einfachen Fragen und endet in Offenheit. Ums Bildermachen geht es ihm nicht. Bohrmanns Zeichnungen handeln von Seherfahrungen. Wir folgen ihren Bewegungen, lesen ihre Spuren, erspüren Tempi und Rhythmus. Da ist wenig hineinzudichten. Erkennendes Wahrnehmen genügt. Das ist ihre Posesie. Oder wie er selbst einmal resümiert: "Das ist eine wichtige Erfahrung: daß ich mich durch das Zeichnen von dem ursprünglichen Sehen entfernt habe, daß ich das Zeichnen zeichne und nicht das Gegenüber, auch nicht die Empfindung davon." Bis 7. Dezember. Danach Frankfurter Kunstverein. Der Katalog kostet 29 Mark. Das großformatige Buch "Wiederholungen. 355 Aktzeichnungen aus der Sammlung Ingrid Welle" kostet in der Ausstellung 64 Mark.