Juliane Roh : "Zu Blättern von Karl Bohrmann."
In: Katalog der Galerie Defet, Nürnberg 1969, o.P.

.....eine Welt verschwebender Eindrücke; eine Welt ohne Materie und ohne Geist, weder objektiv noch subjektiv, eine Welt ohne den idealen Aufbau des Raumes; eine Welt aus Zeit, aus der absoluten gleichförmigen Zeit der "Prinzipia"; ein unermüdliches Labyrinth, ein Chaos, ein Traum..."

Das sind Worte des spanischen Dichters Jerge Luis Berges [Anmerkung:Sie meint Jorge Luis Borges!] , dem Bohrmann mehrere Radierfolgen gewidmet hat. Das Lebensgefühl, das in dieser Textstelle zum Ausdruck kommt, entspricht Bohrmanns künstlerischen Intentionen auf erstaunliche Weise. Es ist dieselbe Empfindung für die rastlose Flucht des Seienden, von dessen Existenz nur Spuren zeugen, während die dahinter liegende Wirklichkeit vom Prinzip Zeit längst veschlungen wurde. Das Erstaunen darüber, daß Etwas ist und nicht Nichts, bindet viele Künstler an die Realität der Nähe, die sie Halt finden läßt inmitten der Grenzenlosigkeit eines leeren Universums.

Bohrmann aber gehört zu denjenigien, die sich der Erfahrung kosmischen Seinszerfalls immer wieder aussetzen, und deren Kunst von diesem Erlebnis geprägt erscheint. Eigentlich müßten die Künstler vor kosmischen Dimensionen und ihren mathematischien Berechnungen kapitulieren. Sie sind nicht vorstellbar und mit unseren natürlichen Anschauungsmitteln auch nicht darzustellen. Zwar ersetzen mathematische Symbole dem Physiker die Anschauung in einer für Laien nicht nachvollziebaren Weise. Dem Gestalter aber bleibt nur die Möglichkeit, eine eigene Symbolsprache zu entwickeln, die seine persönliche Betroffenheit ausdrückt. Er kann sich den neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen gegenüber, die Mikro- und Makrowelt mit vielen Daten erschließen, nur wie ein Kind oder Naiver verhalten, dem eine Libelle und ein Düsenflugzeug gleich wunderbar erscheinen. Seit sich das Weltall für uns ausdehnt, und die Atome ihr ebenso leeres Innere offenbaren, sehen wir uns einer doppelten Natursicht gegenüber: den realen Erscheinungen als ihrem Diesseits sozusagen und ihrer physikalisch-chemischen Struktur akls ihrem völlig andersartigen Jenseits. Den Künstler muß die Antinomie beider Sphären geistig und seelisch bewegen. Und er versucht etwas, das der Naturwissenschaftler nicht kann und auch nicht will: beide Seinsaspekte zum Menschen in einen emotionalen Bezug zu setzen. Vom Kosmos und vom Atom kann er nur in einer dem Wissenschaftler vielleicht kindlich erscheinenden Chiffrebild sprechen, aber er kann diese seine Symbole sehr wohl in seine eigene Audsruckswelt integrieren.

Eben dies versucht Bohrmann schon seit langem, wenn er mit zagen Strichen, die sich gegenseitig zu fliehen scheinen, eine Erscheinung zu fixieren trachtet, die sich aber, während der Strich ihr auf der Spur ist, seinem Zugriff ständig entzieht. Daneben bemüht er sich, sie durch eine Art Koordinatensystem zu orten. Auch Pfeile, Buchstaben und Tabellen sollen das sich Auflösende mit der Macht der Formel beschwören und in die Realität des Diesseits zurückholen. Aber die Fliehkräfte sind allemal stärker. Bei Bohrmanns Zeichnungen wird dem Beschauer deutlich, daß Bewegung etwas mit Zeit zu tun hat, und Zeit und Raum identisch sind. Denn die Geschwindigkeit seiner Strichaktionen schafft zugleich unendlichen Raum – ohne Ziel und ohne Grenze.

Wie nun der Mensch selbst sich aus dem Schwerefeld der Erde löst und sich anschickt, in die kosmische Leere vorzustoßen, so hat sich auch für Bohrmann das Verhältnis des Menschen zu den Seinssphären gewandelt. In neuen Zeichnungen wird häufig eine Art Horizont sichtbar, über den sich der Mensch ins Riesenhafte erhebt, aus einer Sphäre in die andere hineinragend. Galt er früher als Maß aller Dinge, so zwingt ihm jetzt der Kosmos ein neues Maß auf. Dies ist das Thema einer Folge von 12 Offsetzeichnungen. In einer zweiten Folge beschäftigt sich Bohrmann gleichsam mit der Vermessung des Kosmos durch den Menschen. Zum ersten Mal gewinnen die Horizonte schaffenden Geraden und die sich groß darüber erhebenden Senkrechten die Führung im Bild. Flaschen und Reagenzgläser stehen transparent in diesen Leerräumen neben riesigen Vermessungswürfeln. Aber der hauchzarte Strich ist geblieben, der die neuen Erfahrungen so traumfragil erscheinen läßt wie ein Menschenalter zuvor die Strichgespinste von Klee. Doch waren diese noch festgefügte, aetherische Gebilde, während diejenigen von Bohrmann kaum entstanden, schon wieder zu verwehen scheinen, als habe der Geist, der Natur sichtbar macht, das Vertrauen in seinen schöpferischen Urgrund verloren. Klee konnte sich noch näher am "Urgund der Schöpfung" fühlen, "wenn auch noch lange nicht nahe genug." Bohrmann dagegen würde dies wohl kaum von sich behaupten, sondern eher die Heimatlosigkeit des Geistes, seine Trennung vom Urgrund bekennen – in dem Augenblick, wo er sich anschickt, ihm seine letzten Geheimnisse zu entreißen. Bohrmann bedient sich in neueren Arbeiten auch der Farbe, um seine schwebenden Raumzonen licht und transparent zu machen. Sie verstärkt den traumhaften Zug seiner Kunst, ohne ihr das unheimlich Entrückte ihrer Linearstruktur zu nehmen.