Karl Bohrmann: "Antwort auf einen Brief von Schülern eines Gymnasiums, 1977."
In: Katalog der Galerie Rolf Ohse, Bremen 1982.
Lieber D.S. und lieber H.J. M.,
ich bin sicher, daß ein Gespräch besser wäre, worin ich Behauptungen relativieren und präzisieren könnte, durch Nachfragen würde ich nicht so abschweifen. Denn einerseits sind Ihre Fragen sehr allgemein - ich müßte also verallgemeinern - andererseits sind die Fragen so persönlich, daß ich befürchte ins Plaudern zu geraten. Freilich haben Sie richtig gefragt, nur: für einen bildenden Künstler sind die Bilder, die er gesehen hat, die er machte und machen wollte, das Entscheidende und nicht die Gedanken, die Sprache. Also müßten, wie H.J.M. schrieb, die Bilder vor allem gezeigt werden, die ich sah und einige, die ich machte. Ich gehe vielleicht einfach der Reihenfolge Ihrer Fragen nach - versuche mich also zu erinnern.
Ich war 16 Jahre alt als das dritte Reich und der Krieg zu Ende gingen. Mit 14 Jahren war ich entschlossen Maler zu werden, dachte auch an Bildhauer und Musiker. Bis dahin hatte ich außer der "Kunst des Dritten Reiches" nur die alten Meister gesehen, von denen mir Leonardo und die deutschen Romantiker hoch vorschwebten. Ich habe sie abgezeichnet und versucht in deren Art zu zeichnen. Gegen Ende des Krieges sah ich ein Kunstheft mit Bildern von Edvard Munch, der gerade gestorben und der verfemt war, die mir einen ziemlichen Stoß gaben. Ich hatte den Eindruck, daß man unmittelbarer als die Alten, ein Gefühl von Bildern hervorbringen könnte, daß es vielleicht um diese Unmittelbarkeit und vielleicht auch nicht direkt um Bilder, sondern mehr um die Empfindung von Bildern ginge. Kurze Zeit darauf lernte ich einen verwundeten Bildhauer kennen, der bei einem verbotenen Künstler Schüler war und der mir, sehr leise, von den "Entarteten" eine erste und aufregende Vorstellung gab.
Als der Krieg zu Ende war, sah ich auch bald Abbildungen von Klee, Picasso, Beckmann und ich las Texte von Sartre, von Kafka. Mein erstes Bewußtsein vom "Künstler in der Gesellschaft" war also, daß dieser verboten war, im Untergrund oder in der Resistance arbeitete, dies scheinbar sein Platz zu sein habe. Von daher sind mir Benn und Adorno noch immer wichtig.
1947 ging ich auf die Kunstschule nach Saarbrücken, wo Karl Kunz mein Lehrer war, ein Maler, der auch im Versteck arbeiten mußte und dem schließlich nach Kriegsende alles verbrannte. Durch Boris Kleint bekam ich Einflüsse der Bauhauslehre zu spüren, die mir damals wie heute wenig helfen konnte. Danach ging ich nach Stuttgart zu Willi Baumeister, der mir an den Akademien die meiste Freiheit für die Kunst zu fordern schien. Seine Lehre hielt ich für sehr fundiert und wichtig, konnte sie aber auf das, was ich machen wollte, nicht direkt anwenden, mußte sie also getrennt von dem, was ich machte, handhaben. Baumeister verlangte, daß man sich selbst "über Bord werfe", vergessen solle, was man kann und was man wollte. Ein Lehrer müsse "leeren", den Schüler leer machen von Vorbildern und Kunstvorstellungen. Einsichten, die, wie gesagt, ich voll anerkannte, aber nicht beherzigen konnte. Wenn ich auch erkannte, daß meine Probleme privat, nicht allgemein und unhistorisch seien, so hatte ich doch das Empfinden "hindurchzumüssen". Auch, daß ich noch gar nicht genug über Bord zu werfen hätte, fand ich, als daß dies eine Befreiung und Erneuerung für mich bewirken könnte.
Meine Generation, im Gegensatz zur Generation davor, die noch mitten in der Geschichte stand, meine Generation konnte gar nicht anknüpfen und weiterführen, weil, was damals geschah, noch wenig bekannt war, zu wenig, um etwas daraus zu machen, nämlich auch dessen noch gar nicht überdrüssig zu sein. Ich füge hinzu: im Gegensatz auch zur Generation heute, welche sieht, was auf der ganzen Welt gemacht wird, so viel sieht, daß deren Reaktion eher sein muß, sich zu verschließen. Wichtig ist hier auch zu sagen, daß für uns damals kein Kunstmarkt exisitierte, der uns die Lust hätte nehmen können, Bilder zu sehen und welche zu liefern. Wir konnten gar nicht genug Bilder sehen. Der Zustand hieß Nachholbedarf, Kennenlernen und Assimilieren, was vorher gemacht wurde. Vergessen möchte ich nicht zu erwähnen, daß ich wenig Originale sah, diese fast ausschließlich durch Abbildungen kennenlernte, was sicher auch mitbewirkte, nur Schwarzweiß-Graphiken in sehr kleinem Format zu machen.—
Wie könnte man nun mein "politisches Bewußtsein", mein "Verhältnis zur Gesellschaft" und zum Staat damals kennzeichnen? Ich sah den Staat als Vernichter und die Gesellschaft duckmäuserisch Verbrechen duldend. —
In meinen Blättern versuchte ich, meine frühen romantischen Träume kubistisch zu brechen, oder in zarten Netzen, wie Klee, um nicht nur blind in Zerstörung zu wüten, zu transzendieren. Ein Drüberhinschweben schien verlockend. Ich radierte vor allem, dieser Strich schien die nötige Schwärze zu enthalten, und das Ritzen in die Metallplatte schien mir "heutig" zu sein. (Ich habe zu lange radiert). Die Farbe erschien mir oberflächlich, sagte zu früh ja, d.h. ich hatte sie nicht begriffen. (Ich hätte sie allein schon für das Schwarz-Weiß gebrauchen können).
Auf der Akademie in Stuttgart habe ich meine Frau getroffen (Malerin) und wir zogen bald aufs Land. Wir dachten, wir müßten von vorn anfangen, alles alleine machen, eine Rousseau-ldylle, die uns aber lange half. Mit einem Webstuhl wollten wir uns "über Wasser halten", man brauchte auch wenig Geld um auf dem Land zu leben, was wir wollten. Ich machte kleine Blätter, auch das war kein Geldproblem. Das ging Jahre, bis ich ein Stipendium bekam, womit wir in die Stadt mußten. Das Komische war, daß im Wald, wo wir wohnten, ich nur Industrielandschaften, verwüstete Städte zeichnete. Das änderte sich, wenn auch langsam, als wir in der Stadt lebten. Nicht, daß ich jetzt positiv wurde und in die Farbe griff, nur mein Strich war nicht mehr so expressiv bedrohlich, die Gespinste wurden durchlässiger. Auch unter dem Eindruck von Wols und den Tachisten, die wir jetzt zu sehen bekamen, die dazu nun plötzlich "gegenwärtige Kunst" waren, lösten sich meine Stadtkatarakte mehr und mehr auf in kosmische Strukturen, mikroskopische Geflechte, bis diese sich zerfaserten, in Punktgeschwadern auseinanderschwirrten.
Um noch die letzten Finessen der Radierung kennenzulernen, ging ich nach Paris. Ich sah da in einem Schaufenster ein leeres Blatt ausgestellt, das als ich näher hinschaute, eine Bleistiftzeichnung von Giacometti war. Es war nur eine kleine zarte Figur auf einem großen weißen Blatt. Wieder spürte ich, daß es doch darum ginge, mit Simpelstem die Vorstellung vom Bild zu erwecken. Die Reaktion zunächst war, daß ich bei der Radierung, wo ich doch gerade die Finessen kennenlernen wollte,auf jeden Reiz verzichtete, den Mut zum Bleistift fand ich noch immer nicht. Auch nicht den Mut, schlichtweg zu zeichnen, was ich sehen wollte, mußte das immer noch einspinnen.
Inzwischen freilich hatte ich schon ausgestellt, einige Leute hatten sich eine Vorstellung gebildet von dem was ich machte. Für die meisten schienen meine Zeichnungen ganz aus der Hand entstanden, als seien sie Resultate des Vorgangs des Kritzelns, doch hatte ich immer eine ziemlich klare Vorstellung von dem was aufs Blatt sollte, es lagen auch immer Landschaften und Figuren zugrunde, das Detail konnte zufällig sein. Das Gekritzle schien mir ein Zugang zum Unmittelbaren, vertrauend darauf, daß die Hand schneller und direkter den Weg fände, als ich, vorgefaßt, ihr diktierte. Dennoch sollte sie etwas Bestimmtes zeigen.
Was ließe sich verdichten, herauslösen aus diesen Netzen, welchen Rückhalt konnte eine fliegende Linie finden, die nichts umschließen wollte? Ich zeichnete in der Schreibbewegung, da war die Schrift eine Möglichkeit, Linienenden aufzufangen, wenn auch keine Figur, so wenigstens Buchstaben bilden. Es tauchten dann Sätze auf, die mir lieb waren, Texte von Dichtern, die ich verehrte. Dann kamen schemenhaft Gestalten hinzu aus Büchern. Z.B. Jorge Luis Borges und Paolo Volponi haben mich über Jahre hin angeregt und beschäftigt. Es entstanden Bilderbücher zu deren Büchern. Ich illustrierte nicht diese Texte, indem ich abbildete was in den Texten vorkam, ich nahm einfach Fetzen heraus, die ich in anderen Zusammenhang setzte. Sie sollten der Art des Textes ähnlich sein, nicht den Texten selber. Bewußt wurde mir dabei das Phänomen des Lesens und Sehens, d.h. die Übergangsformen von Lesen in Sehen, von Sehen in Lesen. Die wollte ich ausspielen.
Nun war es so, als ich diese geschriebenen, durch Texte verdeutlichten Arbeiten zeigte, daß die Betrachter froh waren, zu wissen, womit sich der Zeichner beschäftigt. Jetzt war er handlich, wenn auch mit mysteriösen Texten. Da wurde ich mir verdächtig. Ich las zwar gerne diese Texte, sie schienen mir Freiheit zu geben, aber ich glänzte mit fremden Federn. Eigentlich wollte ich etwas Schlichteres. Ich hätte auch gern etwas ganz sichtbar gemacht, nicht immer etwas, was man mehr spürt als sieht, ein Bild also, das einfach ein Bild ist, oder noch einfältiger, warum nicht das Bild einer Figur. Die Zeichnung von Giacometti! Wie konnte ich die Figur heraustreten lassen, ohne meine Hand zu zwingen, Schraffuren zu stricheln, Volumen hervorzuzaubern? Damit begann ein Abenteuer. Fast gleichzeitig kam das Angebot, an einer Kunstschule für ein Semester zu unterrichten. Was konnte man 1970, als es an den Hochschulen heiß zuging, an "Kunst" unterrichten? Sollte ich kritzeln lehren? Ich sagte: Aktzeichnen. Das wurde dort lange nicht mehr getan, auch ich habe mich lange davor gedrückt.
Ich nahm ein Modell und übte, aber zeichnete ich das Modell? Ich merkte, ich machte Zeichnungen, die weder Zeichnungen waren, noch das Modell enthielten, und verzweifelte. Ich merkte, wie mein so selbstsicherer Strich faselte, schwach wurde oder in Können austrocknete. Verheerender war noch die Feststellung, daß ich das Modell, während ich zeichnete, gar nicht mehr sah, daß ich es nur zum Korrigieren benutzte. Und daß der Raum, der mir imer so wichtig war, der Raum, in dem das Modell stand und in dem ich zeichnete, einfach weg war, das Modell stand nirgends, wurde nicht real.
Ich fotografierte. Auch das Foto gab nicht das Modell wieder, der Raum war auch nicht da, und nicht die Empfindung, die ich hatte, alles zu scharf und jäh abgeschnitten. Die Konsequenz schien, zu collagieren. Das, was ich scharf sehen wollte, fotografieren, was weniger scharf, mehr spürbar als sichtbar sein sollte, zeichnen. Die Penetranz des Fotos mit der Indifferenz der Zeichnung verquicken, mit dem Netz der Zeichnung die Schwere des Fotos aufzufangen, einen realen Eindruck zu provozieren und in den introvertierten Raum der Zeichnung integrieren.
Die Folge war aber, daß ich mich immer mehr mit der Fotografie befreundete, ihre Grenzen wie Möglichkeiten immer mehr mir aufgingen und mich beschäftigten, sodaß diese mittlerweile ein dienliches Mittel geworden ist, den Blick direkt auf die Dinge zu richten, etwas vorzufinden, und das ohne die Frage nach "Kunst".Meine Zeichnung hatte durch die Collage sich mehr und mehr dem Foto angeglichen, wie ebenso die Fotos der Zeichnung. Nun werden beide freier, das Foto wird mehr Foto, die Zeichnung mehr Zeichnung. Beide brauchen nichts mehr gemeinsam zu haben, wenngleich ich nun auch Fotos für Zeichnungen mache und Zeichnungen für Fotos, Fotos also, die Skizzen sind für Zeichnungen und Zeichnungen tatsächliche Skizzen für Fotos. Beide sind jetzt Mittel, etwas daraus zu machen und dadurch, paradoxerweise, wieder mehr für sich selber da. Zunehmend fotografiere ich, was ich tatsächlich sehen, wiedersehen möchte, weniger um "guter Fotos" willen. Es ist vielleicht wirklich eine Vereinfachung des Kunstproblems, daß ich mich mehr auf da Was konzentriere, weniger beachte, wie ich es sehe und wie das schließlich, verändert, aussieht. Die Mittel einfacher handhaben, sie nicht zwingen, für mich zu sprechen. Gleichermaßen traue ich zunehmend wieder meiner Hand, daß ihr Wille und ihre Empfindung stärker sei, als das, was ich von ihr wollte, daß sie für mich zeichne.
Natürlich habe ich auch gemalt, das hätte ich fast vergessen. Ich habe zu malen begonnen, nachdem ich Jahre fast ausschließlich radiert und gezeichnet habe.
Das war sehr schwierig. Schon von der Forciertheit der radierten Linie zur Anspruchslosigkeit des Bleistifts herunter zu kommen, dauerte lange. Zunächst verwandte ich farbige Stifte, danach tauchten Aquarellnebel auf, die ich dann zu Gouachen sich verdichten ließ. Da ich immer noch auf Papier arbeitete, kostete es auch Mut und Geld auf die schwerfälligere, materiale Leinwand, dazu mit dem Anspruch "Bild" befrachtet, überzugehen, frei darauf, wie auf Papier zu sein.
Eines Tages sagte ein Freund: hier sind große Leinwände, er hatte sie schon aufgespannt, 2 x 2.50 Meter, darauf malst du. Es blieb nichts übrig als kühn zu sein. Die Bilder wurden besser als die kleineren, die ich vorher malte. Ein Jammer war, daß sie mir bald nicht groß genug sein konnten, ich brauchte das, um "kühn" zu sein, um nämlich über meinen Schatten zu springen. Aber auch anderes schränkte mich ein. Die Farbe verlangte wirklich als Farbe und nicht nur als Nebel von Farbe verwendet zu werden, sie wollte als Fläche sich ausbreiten können und die Linie hatte darin zu verschwinden. Das schaffte ich nicht. Ein weiteres Malheur war, daß ich zunehmend nicht wußte, wann ich beim Bild zu malen aufhören sollte, wann es "gut" war oder schlechter wurde. Die Bilder hielten mich auch zu lange fest. Als Lehrer, der ich nun war, hatte ich auch keine Zeit mehr dafür.
Vielleicht ist, was meine großen Bilder von den kleineren Blättern unterscheidet, daß da eine andere Art von Betrachtung stattfindet. Eine Zeichnung liest man mehr in der Art eines Briefes, ein großes Bild dagegen steht einem als Wand gegenüber. Ein Bild muß darum auch körperlich Widerstand bieten, körperliche Kräfte ausüben, Kräfte, die der Betrachter mit dem ganzen Körper aufnimmt, während man eine Zeichnung mehr durch die Augen assimiliert. Ein anderes Phänomen schien mir beim großen Bild zu sein, daß mehrere Leute davorstehen können, daß es etwas von einer Ansprache hat oder wie ein richtiges Tor ist, durch das man gehen könnte. Wohingegen im kleinen Format eine Zwiesprache stattfindet oder ein Monolog. –
Das scheint nun alles wohlaufzugehen, wenn ich das Geschriebene überfliege, als bestünde eine Entwicklung, ein Zusammenhang. Aber was habe ich, ohne daß ich es wollte, vergessen, was habe ich unterschlagen? Das würde mich jetzt interessieren. Worauf habe ich überhaupt geantwortet? Ich habe noch nie so einen langen Brief geschrieben, vor allem noch nie so behäbig erzählt. – Habe ich mich über Ihren Brief doch so gefreut, daß ich derart in die Breite schmolz? –
Eigentlich war mir immer "Spontanität" wichtig, wenn auch die dmait verbundene Flüchtigkeit, verdächtig. Etwas "verflucht Impressionistisches". Anders gesagt: Momentempfindungen, Spuren des Augenblicks. "Spontanität und Bewußtsein", fragen Sie, werden wahrscheinlich, wenn ein Bild gelingt, wechselseitig wirken, sodaß es schwer sein dürfte, sie zu trennen. Beim bildenden Künstler wird jedoch das Bilddenken, das "bildnerische Denken" vorherrschend sein, das kann nicht oft genug betont werden. Das "Korrespondieren mit der Zeit" wird primär durch das Auge geschehen. Auch wenn man gegen die Bilderflut steuern möchte, wird man von ihrem Strom getrieben sein. Angeregt haben mich viele, es würde eine ganze Liste geben. Manchmal bin ich erschrocken, daß es zunehmend weniger werden, aber nicht weil es weniger Anregendes gäbe, sondern weil ich meiner begrenzten Möglichkeiten mehr und mehr inne werde. Vorlieben zur Zeit: Corot, Bonnard, Morandi, Twombly, Beuys. —
Wenn ich nun eine Sentenz drechseln müßte, was denn ein Künstler sei, das sähe sehr holzschnitthaft aus, etwa so: ein Maler ist einer, der etwas sichtbar macht und der das, was er macht, zeigt. Er zeigt damit, was eigentlich jeder machen könnte, nur daß es nicht jeder macht und nicht jeder zeigt.
Ein Bild wird also nie ganz Zufall, ein Künstler nie ganz verrückt oder unverbindlich sein.
Vielen Dank für Ihren Langmut! Ihr Karl Bohrmann