Joachim Heusinger von Waldegg: "Zeichnung als Brief, Plan, Partitur."
In: Karl Bohrmann. Akte des Zeichnens. Katalog der Städtischen Kunsthalle Mannheim,1981, S. 3-8.

Karl Bohrmann Jahrgang 1928, das sei eingangs vermerkt, gehört weder zu den »zu Unrecht vergessenen« »übersehenen« oder aber (womöglich noch zu Lebzeiten) »wiederentdeckten« Künstlern wie es in der Nomenklatur unserer Tage lautet. Mit seinem konsequent entwickelten, dabei vielseitig verzweigten graphischen Werk steht er vielmehr seit Ende der 50er Jahre in der vordersten Reihe der deutschen Künstler seiner Generation. Wenn man gleichwohl bis vor kurzem auf eine größere, zusammenfassende Ausstellung seines zeichnerischen Œuvres warten mußte – sie wurde ihm unlängst, großzügig bemessen, von der Städtischen Galerie im Lenbachhaus München eingerichtet – so liegt das gewiß nicht allein an der persönlichen Eigenart des die Öffentlichkeit eher scheuenden Künstlers bzw. an dem intimen Charakter der Zeichnungen; auch die plötzliche Aktualität seiner zeichnerischen Diktion, die Bohrmann freilich nicht suchte, spielte eine gewichtige Rolle. Es liegt auf der Hand, daß man für bestimmte Merkmale seiner feinnervigen Zeichnungen, wie offen transitorisch, verschwebend, gerade heute empfänglich ist, wo doch Zeichnung als Niederschlag von Subjektivem, als Mitteilung von Lebensgefühl als seismographische »Erschütterungsspur« (F. J. van der Grinten über Beuys) wieder hoch geschätzt wird. Doch kann Bohrmanns Zeichenkunst auf derartige Brückenschläge vermöge aktueller Zuordnungen durchaus verzichten. Dies läßt sich nicht zuletzt ahnhand der Kontinuität bestimmter Themen verdeutlichen.
Unsere Ausstellung beschränkt sich ausschließlich auf die »Aktzeichnungen«. Doch weder die derzeitige auferzwungene räumliche Beschränkung noch spezielle Vorlieben für eine vermeintliche unzeitgemäße »akademische« Gattung der Zeichnung veranlaßte uns zu der Auswahl. Mit der thematisch orientierten Übersicht von Zeichnungen aus knapp drei Jahrzehnten glauben wir einen wichtigen Aspekt seines Werkes zu belegen, worauf auch der doppelsinnig gemeinte Ausstellungstitel »Akte des Zeichnens« hinweisen möchte. Jedenfalls traf unser Ausstellungsvorhaben sogleich auf Verständnis und Gegenliebe, mehr noch: ein insgeheim bislang unerfüllter Wunsch des Künstlers geht hiermit in Erfüllung. Denn keineswegs bedeutet die motivische Eingrenzung eine unzulässige Verkürzung seines Werks, da ja jede Aktzeichnung Bohrmanns zugleich ein neuer Akt des Zeichnens darstellt; in ihm wird das Zeichnen selbst thematisiert. Hierzu liefern Bohrmanns »Notizen zum Aktzeichnen«, 1975 veröffentlich, als Ergebnis seiner Lehrerfahrungen an der Frankfurter Städel-Schule formuliert, wichtige Aufschlüsse im Hinblick auf für seine Zeichnung charakteristische, komplexe Zusammenhänge von Anschauung und Vorstellung, Realität und Fiktion: »Das ist eine wichtige Erfahrung: daß ich mich durch das Zeichnen von dem ursprünglichen Sehen entfernt habe, daß ich das Zeichnen zeichne und nicht das Gegenüber, auch nicht die Empfindungen davon«. Fernab von jeglicher trockenen Vermittlung »technischer« Rezepturen und Kniffe gewährt Bohrmann hier Einblicke in das Zustandekommen zeichnerischer Anschauungsformen aufgrund von Wahrnehmungsweisen und psycho-physischerReaktionen auf Körperverhalten. Das Aktmodell, dies versteht sich demnach eigentlich von selbst, ist für ihn nicht allein ein Objekt, sondern ein lebendiges Gegenüber, eine Existenz, zu der der Zeichner in Beziehung tritt. Aktzeichnen, so verstanden, ist nun freilich kein Aktzeichnen mehr im konventionellen Sinne, da die fruchtbare innere Unruhe des Zeichners jeden Anflug von Akademismus überspielt bzw. erst gar nicht aufkommen läßt. Dennoch beharrt Bohrmann gerade in seinen jüngeren Arbeiten auf der Anschauung, dem Gegenüber des Modells (wovon noch zu sprechen sein wird) und begnügt sich gerade »nicht mit der Assoziation, der Poesie allein« (Bohrmann).
Sich Einlassen auf das Objektive, die Lust am scheinbar unzeitgemäßen Thema kennzeichnen bereits die raumszenisch organisierten Aktzeichnungen. und –radierungen der frühen 50er Jahre, da es, zur Hochzeit des Tachismus, allgemein noch als Regel galt, »so etwas dürfte man nicht«. In der flüchtigen Erscheinung und der Anonymiät des vom Rücken gesehenen weiblichen Aktes, den kargen Milieuangaben von Stuhl, Tisch, Fensterkreuz, die sich zu schwankender Räumlichkeit verkeilen gelangt ein unmittelbar erfahrbarer existentieller Bezug, ein Gefühl der Vorlorenheit zu Anschauung, wenn auch in einer nicht auf den Zeichner beschränkten Auffassung. Denn obzwar die flasche Raumstaffelung, die autonome Linie, expressionistischen Vorbildern folgend, die Figur zu zeichenhafter Prägnanz vereinfachen, ist doch die zeiteigentümliche Stimmung noch in den 1961 enstanden Motiven, trotz der inzwischen zur zeichnerischen Gestik befreiten Hand, deutlich spürbar. Schon die Titel einiger früher Radierungen sprechen für sich: »Trauertag«, »Peripherie«, »Gestelle«. Wie zögernd vorgetragen wirken die leichten, kurvig gebrochenen Linienschwünge der Körperkanten, begleitet von fahrig-lässigen Strichen, eingetaucht in melancholisches Hell-Dunkel. Die betonte »Armut« der zeicherischen Mittel, der zögernd gehemmte Strichgestus, der, jeder schlüssigen Formulierung mißtrauend, Anspielung und Zwischenlagen sucht, ist letztlich Ausfluß einer meditativen Haltung, die passiv empfindsam, der Eingebung folgend, dem Zustand des Angerührtseins Sprache verleihen möchte. Indes wird angesichts der willkürlichen räumlichen Eingrenzungen auf diesen Blättern, der instabilen Situation der kopfüber »stürzenden« oder aber vorbeihuschenden Akte die Suche nach einer tragfähigen räumlichen Konzeption deutlich, die gleichzeitig Bohrmanns differenzierten Absichten der Verschränkung von Körper und Raum genügen könnte. Noch dominiert eine eher dramatische milieuverhaftete Auffassung. Erst zu Beginn der 60er Jahre wird die atmosphärisch belebte Raumdarstellung, wird das raumeinhüllende rußige Schwarz durch transparente lineare Gefüge ersetzt.
Während eines Parisaufenthaltes, der mit der Absicht geplant war, seine Kenntnisse in der Radiertechnik bei Johnny Friedlaender zu vervollkommnen, sieht Bohrmann zufällig einige Zeichnungen Giacomettis, die ihm schlagartig neue Möglichkeiten eröffnen, unterschiedliche Vorstellungsbereiche durch räumliche Konstruktionen miteinander zu verbinden. Freilich trafen Bohrmann solche Einsichten nicht unvorbereitet, konnte er wohl nur deshalb für Giacomettis Zeichenkunst »disponiert« sein, weil er, gleich anderen Künstlern seiner Generation um 1960, nach einer Synthese aus den vorausgehenden Strömungen der abstrakten Kunst strebte, die dann zu den verschiedenen Spielarten jener »Neuen Figuration« führte. Wenn auch eine vorübergehende Beschäftigung mit der Plastik, ähnlich wie bei Rudolf Schoofs, eine gewisse Rolle spielte, so war es doch vor allem die experimentelle Zeichnung, welche die Entwicklung vorantrieb. Sichtbar wird die allmähliche Verfestigung des skripturalen Tachismus. Aus Worten, Ziffern, lose gestreuten Strichbündeln entwickeln sich Strukturen des Raumes. Angedeutete Achsenkreuze wirken wie tastend gewonnene, zerbrechliche Raumorthogonalen, die den Blick auf imaginäre Räume freigeben. Wenig später entwickeln sich aus solchen Konstruktionen Kastenräume, in welchen die Figuren nur flüchtigen Halt finden, aus ihm herauswachsen oder seitlich »herauszufallen« scheinen.
Trotz außerordentlicher Bereicherung der graphischen Ausdrucksformen läßt sich nunmehr, so merkwürdig das auf den ersten Blick anmuten mag, eine gewisse Entwertung der zeichnerischen Mittel und Formen feststellen, in dem Sinne nämlich, daß Bohrmann aus den formalen Mustern der Nachkriegszeit, seien es lyrische Abstraktion, Tachismus, die gestische Malerei des Informel jeweils lediglich das herauszieht, was seiner Auffassung von Zeichnung als »Botschaft« von Nutzen ist. Verständlich, daß er jetzt auch den Assoziationsspielraum der Literatur nutzt, Paolo Volponi und Jorge Luis Borges sind Autoren, die ihm besonders nahekommen, da sie seiner zeichnerischen Intention, der Durchdringung von Traum und Wirklichkeit, der Entwicklung surrealer Räume, seiner Vorstellung von synthetischer Konstruktion der Wirklichkeit nahekommen.
Das Studium bei Willi Baumeister 1948/49 an der Stuttgarter Akademie hatte dafür zunächst keine brauchbare Basis geliefert. Erst viel später konnte sein hoch entwickeltes bildnerisches Bewußtsein hier anknüpfen. Während seiner Studienzeit war der skeptische reflektierende Zeichner in respektvoller Distanz zur »formalen Weisheit« des Lehrers verblieben, die rasch erworbene Kunstferigkeit seiner Kollegen hatte in ihm eher den Wunsch zu geduldiger Entwicklung erweckt. Denn schließlich ging und geht es ihm gar nicht in erster Linie um ästhetische Probleme, um Probleme des Kunst-Machens, sondern vielmehr darum, der Empfindung existentieller Betroffenheit im Augenblick Dauer zu verleihen. Was zählt, ist nicht die Klärung formaler Probleme, sondern die Intensität des Gefühls, ist die Art und Weise »Befindlichkeiten« durch Zeichnen zu vergegenwärtigen. Dabei ist es geblieben, auch wenn sich später die Mittel ändern sollten.
Zu Beginn der 60er Jahre läßt sich immer deutlicher ein Abdrücken [sic!vermutlich: Abrücken]von begrenzten Raumdarstellungen zugunsten transparenter, durchlässiger Bezüge feststellen. Ihr entspricht die Zerfaserung der Formen, graphischer Reflex flüchtiger Notationen, Beschwörungen von Ängsten, Hinweise auf das Entrückte. Die Linie wird zum universalen Ausdrucksträger, in der gleichzeitig die persönliche Empfindung ihre unmittelbare Verwirklichung erfährt. Dabei ist die Nähe solcher »Psychogramme« zu Wols stellenweise nicht zu übersehen. Um heute eine Vorstellung davon zu vermitteln, welchen Bedeutungsfächer der Linie im skripturalen Tachismus beigemessen wurde, sei auf ein Zitat von Pierre Restany verwiesen, der anläßlich der Pariser Ausstellung von Cy Twombly 1966 formulierte: »Son graphisme est poésie, reportage, geste furtif, defoulement sexuel, écriture automatique, affirmation de soi, et refus aussi« (Sein Zeichnen ist Dichtung, Reportage, verstohlene Geste, sexuelle Entspannung, automatische Schrift, Selbst-Behauptung und auch –verneinung). Die Scheibform des Bildes, dessen konzentrische Anlage sich, nebenbei bemerkt, von der über das Bild hinausgreifenden All-over-Struktur bei Cy Twombly als europäische Variante absetzt, hat mit dem unmittelbaren Niederschlag von Empfindung zu tun. Zudem erweist sich die Nähe zum Schreiben in der diagonalen Verlaufsform der Zeichnung, wohingegen die Druckgraphik durch seitenverkehrte Wiedergabe diesen Vorgang hinwiederum verfremdet. Im Schreiben treffen verschiedene Komponenten zusammen: Rhythmus, Stimmung, Welterfahrung. In jedem Fall bedeutet Linie eine Handlungsform, den Akt eines Vollzugs in Zeit und Raum. »Lesen« will hier vor allem als Bewegungsimpuls, als Vorgang verstanden werden.
Im Tempo des Zeichnens wird etwas von der Flüchtigkeit der inneren Erscheinung deutlich. Bewegung wird mit Zeit gekoppelt, Zeit und Raum sind identisch. Strichaktionen umkreisen Raumvorstellungen. Ist es zunächst – in Analogie zum frühen Giacometti – die Andeutung eines Kastenraums, die ein räumliches Ordnungsschema erzeugt, so sind es später Horizonte bzw. Raumkompartimente, vor denen sich die Figuren zunehmend verselbständigen. Nicht allein die allseitige Offenheit der Zeichnungen, der Durchblick auf imaginäre Räume und Bilder weist über die einzelne Zeichnung hinaus auf eine gemeinstame sinntragende Schicht. Auch das Offenlegen des Prozeßhaften, die unverdeckten Korrekturen, Überklebungen, Einrisse und »Zufälligkeiten« des Entstehungsprozesses, sind Hinweise auf das wie beiläufig Flüchtige der Erscheinungsform dieser Zeichnungen, die sich damit gegen eine Auffassung von zeichnerischer Erfindung und »eindeutiger« Formklärung absetzen, statt dessen »Bruchstücke« der Intuition als assoziationsförderndes Mittel einsetzen. (Bohrmann: »Eine gute Zeichnung scheint ganz leicht zu sein, wie von selbst entstanden, als hätte auch ich, der Betrachter, sie machen können.«)
In den letzten Jahren hat Bohrmann diese Beiläufigkeit zu einer Ausdrucksqualität von hohem Reiz befähigt – man beachte die Art, wie er die Melodik eines Körperkonturs mit flüchtig schraffiertem Strichwerk kontrastiert. Nicht nur die Form, auch der Bildträger werden zunehmend offen, gerissenes, geknicktes, oder aber unterschiedlich präpariertes, mit graphischen Ordnungssystemen bezeichnetes Papier dienen als povere »Vorlage«, die aufgrund solcher Beschaffenheit der raschen Besetzung durch zeichnerische Formen zu widerstehen scheint. Doch werden bei Bohrmann derartige dadaistische materiale Bedingungen in dialektischer Umkehrung sogleich in den Kunst-Kontext überführt und als Mittel der Veranschaulichung eines amorphen, fließenden Zustands der Ideen eingesetzt. Solch unbefangenen Umgang mit Resten und Abfällen. die ihm auf dem Ateliertisch vor-liegen, sieht Bohrmann heute als neue Stufe einer Entwicklung von der Idee zur Anschauung, womit er sich zweifellos im Einklang mit spezifischen Veränderungen der Kunst in den letzten beiden Jahrzehnten befindet.
Anregungen vermittlet ihm numehr die Beschäftigung mit der Fotografie. Als Ersatz für das Aktmodell, zugleich als »Gegenüber« betrachtet Bohrmann die Fotografie, um dann alsbald mit ihr in einen gestalterischen Dialog einzutreten. Er beobachtet, wie durch zeichnerische Ergänzungen die Fotografie in ihrer optischen Faktizität neutralisiert, der Raum erweitert und imginären Bereichen geöffnet wird. Verwischung, Ergänzung, Fragmentierung bedeuten ihm Möglichkeiten, sich heutzutage bildnerisch auf alltägliche Objekte und Situationen einzulassen, poetische Zusammenhänge aufzuspüren. Jene Objekt-Bezogenheit korrespondiert mit der Renaissance der Neuen Sachlichkeit, der Bohrmann während seiner Lehrtätigkeit an der Städel-Schule (1972-80) konfrontiert wurde und die Studenten dazu brachte, nach jahrelanger Abstinenz wieder an die Zeichenbretter zurückzukehren, um Akt zu zeichnen. Einen gewissen Höhepunkt erreichte diese Entwicklung Mitte der 70er Jahre. Bezeichnenderweise wurde 1975 der »Kunstpreis junger Westen« der Stadt Recklinghausen für Kunstwerke mit dem Thema »Akt« ausgeschrieben.
Fragt man zusammenfassend, welchen Stellenwert diese intim-private, unaufhörlich neu-beginnende Zeichenkunst heute für uns hat, so ist es wohl in erster Linie die Überzeugungskraft und Authentizität des Subjektiven, die und anrührt. Angesichts der oft lauten, selbstsicheren Attitüde der »„wilden« Malerei dieser Zeit könnte eine solche differenzierte Zeichenweise, die Skepsis, Zweifel, Ungewißheit zur Maxime erhebt, im Aufspüren von Gestalt, im Finden von Sprachmöglichkeiten anstelle von Setzungen ihr Zentrum findet, leicht übersehen werden. Die Unmittelbarkeit solcher zeichnerischen Entäußerungen, so will es scheinen, erreicht im Erotischen ihre größte Lebensnähe.