Karl
Bohrmann Jahrgang 1928, das sei eingangs vermerkt, gehört weder zu
den »zu Unrecht vergessenen« »übersehenen«
oder aber (womöglich noch zu Lebzeiten) »wiederentdeckten«
Künstlern wie es in der Nomenklatur unserer Tage lautet. Mit seinem
konsequent entwickelten, dabei vielseitig verzweigten graphischen Werk
steht er vielmehr seit Ende der 50er Jahre in der vordersten Reihe der
deutschen Künstler seiner Generation. Wenn man gleichwohl bis vor
kurzem auf eine größere, zusammenfassende Ausstellung seines
zeichnerischen uvres warten mußte sie wurde ihm unlängst,
großzügig bemessen, von der Städtischen Galerie im Lenbachhaus
München eingerichtet so liegt das gewiß nicht allein
an der persönlichen Eigenart des die Öffentlichkeit eher scheuenden
Künstlers bzw. an dem intimen Charakter der Zeichnungen; auch die
plötzliche Aktualität seiner zeichnerischen Diktion, die Bohrmann
freilich nicht suchte, spielte eine gewichtige Rolle. Es liegt auf der
Hand, daß man für bestimmte Merkmale seiner feinnervigen Zeichnungen,
wie offen transitorisch, verschwebend, gerade heute empfänglich ist,
wo doch Zeichnung als Niederschlag von Subjektivem, als Mitteilung von
Lebensgefühl als seismographische »Erschütterungsspur«
(F. J. van der Grinten über Beuys) wieder hoch geschätzt wird.
Doch kann Bohrmanns Zeichenkunst auf derartige Brückenschläge
vermöge aktueller Zuordnungen durchaus verzichten. Dies läßt
sich nicht zuletzt ahnhand der Kontinuität bestimmter Themen verdeutlichen.
Unsere Ausstellung beschränkt sich ausschließlich auf die »Aktzeichnungen«.
Doch weder die derzeitige auferzwungene räumliche Beschränkung
noch spezielle Vorlieben für eine vermeintliche unzeitgemäße
»akademische« Gattung der Zeichnung veranlaßte uns zu
der Auswahl. Mit der thematisch orientierten Übersicht von Zeichnungen
aus knapp drei Jahrzehnten glauben wir einen wichtigen Aspekt seines Werkes
zu belegen, worauf auch der doppelsinnig gemeinte Ausstellungstitel »Akte
des Zeichnens« hinweisen möchte. Jedenfalls traf unser Ausstellungsvorhaben
sogleich auf Verständnis und Gegenliebe, mehr noch: ein insgeheim
bislang unerfüllter Wunsch des Künstlers geht hiermit in Erfüllung.
Denn keineswegs bedeutet die motivische Eingrenzung eine unzulässige
Verkürzung seines Werks, da ja jede Aktzeichnung Bohrmanns zugleich
ein neuer Akt des Zeichnens darstellt; in ihm wird das Zeichnen selbst
thematisiert. Hierzu liefern Bohrmanns »Notizen zum Aktzeichnen«,
1975 veröffentlich, als Ergebnis seiner Lehrerfahrungen an der Frankfurter
Städel-Schule formuliert, wichtige Aufschlüsse im Hinblick auf
für seine Zeichnung charakteristische, komplexe Zusammenhänge
von Anschauung und Vorstellung, Realität und Fiktion: »Das
ist eine wichtige Erfahrung: daß ich mich durch das Zeichnen von
dem ursprünglichen Sehen entfernt habe, daß ich das Zeichnen
zeichne und nicht das Gegenüber, auch nicht die Empfindungen davon«.
Fernab von jeglicher trockenen Vermittlung »technischer« Rezepturen
und Kniffe gewährt Bohrmann hier Einblicke in das Zustandekommen
zeichnerischer Anschauungsformen aufgrund von Wahrnehmungsweisen und psycho-physischerReaktionen
auf Körperverhalten. Das Aktmodell, dies versteht sich demnach eigentlich
von selbst, ist für ihn nicht allein ein Objekt, sondern ein lebendiges
Gegenüber, eine Existenz, zu der der Zeichner in Beziehung tritt.
Aktzeichnen, so verstanden, ist nun freilich kein Aktzeichnen mehr im
konventionellen Sinne, da die fruchtbare innere Unruhe des Zeichners jeden
Anflug von Akademismus überspielt bzw. erst gar nicht aufkommen läßt.
Dennoch beharrt Bohrmann gerade in seinen jüngeren Arbeiten auf der
Anschauung, dem Gegenüber des Modells (wovon noch zu sprechen sein
wird) und begnügt sich gerade »nicht mit der Assoziation, der
Poesie allein« (Bohrmann).
Sich Einlassen auf das Objektive, die Lust am scheinbar unzeitgemäßen
Thema kennzeichnen bereits die raumszenisch organisierten Aktzeichnungen.
und radierungen der frühen 50er Jahre, da es, zur Hochzeit
des Tachismus, allgemein noch als Regel galt, »so etwas dürfte
man nicht«. In der flüchtigen Erscheinung und der Anonymiät
des vom Rücken gesehenen weiblichen Aktes, den kargen Milieuangaben
von Stuhl, Tisch, Fensterkreuz, die sich zu schwankender Räumlichkeit
verkeilen gelangt ein unmittelbar erfahrbarer existentieller Bezug, ein
Gefühl der Vorlorenheit zu Anschauung, wenn auch in einer nicht auf
den Zeichner beschränkten Auffassung. Denn obzwar die flasche Raumstaffelung,
die autonome Linie, expressionistischen Vorbildern folgend, die Figur
zu zeichenhafter Prägnanz vereinfachen, ist doch die zeiteigentümliche
Stimmung noch in den 1961 enstanden Motiven, trotz der inzwischen zur
zeichnerischen Gestik befreiten Hand, deutlich spürbar. Schon die
Titel einiger früher Radierungen sprechen für sich: »Trauertag«,
»Peripherie«, »Gestelle«. Wie zögernd vorgetragen
wirken die leichten, kurvig gebrochenen Linienschwünge der Körperkanten,
begleitet von fahrig-lässigen Strichen, eingetaucht in melancholisches
Hell-Dunkel. Die betonte »Armut« der zeicherischen Mittel,
der zögernd gehemmte Strichgestus, der, jeder schlüssigen Formulierung
mißtrauend, Anspielung und Zwischenlagen sucht, ist letztlich Ausfluß
einer meditativen Haltung, die passiv empfindsam, der Eingebung folgend,
dem Zustand des Angerührtseins Sprache verleihen möchte. Indes
wird angesichts der willkürlichen räumlichen Eingrenzungen auf
diesen Blättern, der instabilen Situation der kopfüber »stürzenden«
oder aber vorbeihuschenden Akte die Suche nach einer tragfähigen
räumlichen Konzeption deutlich, die gleichzeitig Bohrmanns differenzierten
Absichten der Verschränkung von Körper und Raum genügen
könnte. Noch dominiert eine eher dramatische milieuverhaftete Auffassung.
Erst zu Beginn der 60er Jahre wird die atmosphärisch belebte Raumdarstellung,
wird das raumeinhüllende rußige Schwarz durch transparente
lineare Gefüge ersetzt.
Während eines Parisaufenthaltes, der mit der Absicht geplant war,
seine Kenntnisse in der Radiertechnik bei Johnny Friedlaender zu vervollkommnen,
sieht Bohrmann zufällig einige Zeichnungen Giacomettis, die ihm schlagartig
neue Möglichkeiten eröffnen, unterschiedliche Vorstellungsbereiche
durch räumliche Konstruktionen miteinander zu verbinden. Freilich
trafen Bohrmann solche Einsichten nicht unvorbereitet, konnte er wohl
nur deshalb für Giacomettis Zeichenkunst »disponiert«
sein, weil er, gleich anderen Künstlern seiner Generation um 1960,
nach einer Synthese aus den vorausgehenden Strömungen der abstrakten
Kunst strebte, die dann zu den verschiedenen Spielarten jener »Neuen
Figuration« führte. Wenn auch eine vorübergehende Beschäftigung
mit der Plastik, ähnlich wie bei Rudolf Schoofs, eine gewisse Rolle
spielte, so war es doch vor allem die experimentelle Zeichnung, welche
die Entwicklung vorantrieb. Sichtbar wird die allmähliche Verfestigung
des skripturalen Tachismus. Aus Worten, Ziffern, lose gestreuten Strichbündeln
entwickeln sich Strukturen des Raumes. Angedeutete Achsenkreuze wirken
wie tastend gewonnene, zerbrechliche Raumorthogonalen, die den Blick auf
imaginäre Räume freigeben. Wenig später entwickeln sich
aus solchen Konstruktionen Kastenräume, in welchen die Figuren nur
flüchtigen Halt finden, aus ihm herauswachsen oder seitlich »herauszufallen«
scheinen.
Trotz außerordentlicher Bereicherung der graphischen Ausdrucksformen
läßt sich nunmehr, so merkwürdig das auf den ersten Blick
anmuten mag, eine gewisse Entwertung der zeichnerischen Mittel und Formen
feststellen, in dem Sinne nämlich, daß Bohrmann aus den formalen
Mustern der Nachkriegszeit, seien es lyrische Abstraktion, Tachismus,
die gestische Malerei des Informel jeweils lediglich das herauszieht,
was seiner Auffassung von Zeichnung als »Botschaft« von Nutzen
ist. Verständlich, daß er jetzt auch den Assoziationsspielraum
der Literatur nutzt, Paolo Volponi und Jorge Luis Borges sind Autoren,
die ihm besonders nahekommen, da sie seiner zeichnerischen Intention,
der Durchdringung von Traum und Wirklichkeit, der Entwicklung surrealer
Räume, seiner Vorstellung von synthetischer Konstruktion der Wirklichkeit
nahekommen.
Das Studium bei Willi Baumeister 1948/49 an der Stuttgarter Akademie hatte
dafür zunächst keine brauchbare Basis geliefert. Erst viel später
konnte sein hoch entwickeltes bildnerisches Bewußtsein hier anknüpfen.
Während seiner Studienzeit war der skeptische reflektierende Zeichner
in respektvoller Distanz zur »formalen Weisheit« des Lehrers
verblieben, die rasch erworbene Kunstferigkeit seiner Kollegen hatte in
ihm eher den Wunsch zu geduldiger Entwicklung erweckt. Denn schließlich
ging und geht es ihm gar nicht in erster Linie um ästhetische Probleme,
um Probleme des Kunst-Machens, sondern vielmehr darum, der Empfindung
existentieller Betroffenheit im Augenblick Dauer zu verleihen. Was zählt,
ist nicht die Klärung formaler Probleme, sondern die Intensität
des Gefühls, ist die Art und Weise »Befindlichkeiten«
durch Zeichnen zu vergegenwärtigen. Dabei ist es geblieben, auch
wenn sich später die Mittel ändern sollten.
Zu Beginn der 60er Jahre läßt sich immer deutlicher ein Abdrücken
[sic!vermutlich: Abrücken]von begrenzten Raumdarstellungen zugunsten
transparenter, durchlässiger Bezüge feststellen. Ihr entspricht
die Zerfaserung der Formen, graphischer Reflex flüchtiger Notationen,
Beschwörungen von Ängsten, Hinweise auf das Entrückte.
Die Linie wird zum universalen Ausdrucksträger, in der gleichzeitig
die persönliche Empfindung ihre unmittelbare Verwirklichung erfährt.
Dabei ist die Nähe solcher »Psychogramme« zu Wols stellenweise
nicht zu übersehen. Um heute eine Vorstellung davon zu vermitteln,
welchen Bedeutungsfächer der Linie im skripturalen Tachismus beigemessen
wurde, sei auf ein Zitat von Pierre Restany verwiesen, der anläßlich
der Pariser Ausstellung von Cy Twombly 1966 formulierte: »Son graphisme
est poésie, reportage, geste furtif, defoulement sexuel, écriture
automatique, affirmation de soi, et refus aussi« (Sein Zeichnen
ist Dichtung, Reportage, verstohlene Geste, sexuelle Entspannung, automatische
Schrift, Selbst-Behauptung und auch verneinung). Die Scheibform
des Bildes, dessen konzentrische Anlage sich, nebenbei bemerkt, von der
über das Bild hinausgreifenden All-over-Struktur bei Cy Twombly als
europäische Variante absetzt, hat mit dem unmittelbaren Niederschlag
von Empfindung zu tun. Zudem erweist sich die Nähe zum Schreiben
in der diagonalen Verlaufsform der Zeichnung, wohingegen die Druckgraphik
durch seitenverkehrte Wiedergabe diesen Vorgang hinwiederum verfremdet.
Im Schreiben treffen verschiedene Komponenten zusammen: Rhythmus, Stimmung,
Welterfahrung. In jedem Fall bedeutet Linie eine Handlungsform, den Akt
eines Vollzugs in Zeit und Raum. »Lesen« will hier vor allem
als Bewegungsimpuls, als Vorgang verstanden werden.
Im Tempo des Zeichnens wird etwas von der Flüchtigkeit der inneren
Erscheinung deutlich. Bewegung wird mit Zeit gekoppelt, Zeit und Raum
sind identisch. Strichaktionen umkreisen Raumvorstellungen. Ist es zunächst
in Analogie zum frühen Giacometti die Andeutung eines
Kastenraums, die ein räumliches Ordnungsschema erzeugt, so sind es
später Horizonte bzw. Raumkompartimente, vor denen sich die Figuren
zunehmend verselbständigen. Nicht allein die allseitige Offenheit
der Zeichnungen, der Durchblick auf imaginäre Räume und Bilder
weist über die einzelne Zeichnung hinaus auf eine gemeinstame sinntragende
Schicht. Auch das Offenlegen des Prozeßhaften, die unverdeckten
Korrekturen, Überklebungen, Einrisse und »Zufälligkeiten«
des Entstehungsprozesses, sind Hinweise auf das wie beiläufig Flüchtige
der Erscheinungsform dieser Zeichnungen, die sich damit gegen eine Auffassung
von zeichnerischer Erfindung und »eindeutiger« Formklärung
absetzen, statt dessen »Bruchstücke« der Intuition als
assoziationsförderndes Mittel einsetzen. (Bohrmann: »Eine gute
Zeichnung scheint ganz leicht zu sein, wie von selbst entstanden, als
hätte auch ich, der Betrachter, sie machen können.«)
In den letzten Jahren hat Bohrmann diese Beiläufigkeit zu einer Ausdrucksqualität
von hohem Reiz befähigt man beachte die Art, wie er die Melodik
eines Körperkonturs mit flüchtig schraffiertem Strichwerk kontrastiert.
Nicht nur die Form, auch der Bildträger werden zunehmend offen, gerissenes,
geknicktes, oder aber unterschiedlich präpariertes, mit graphischen
Ordnungssystemen bezeichnetes Papier dienen als povere »Vorlage«,
die aufgrund solcher Beschaffenheit der raschen Besetzung durch zeichnerische
Formen zu widerstehen scheint. Doch werden bei Bohrmann derartige dadaistische
materiale Bedingungen in dialektischer Umkehrung sogleich in den Kunst-Kontext
überführt und als Mittel der Veranschaulichung eines amorphen,
fließenden Zustands der Ideen eingesetzt. Solch unbefangenen Umgang
mit Resten und Abfällen. die ihm auf dem Ateliertisch vor-liegen,
sieht Bohrmann heute als neue Stufe einer Entwicklung von der Idee zur
Anschauung, womit er sich zweifellos im Einklang mit spezifischen Veränderungen
der Kunst in den letzten beiden Jahrzehnten befindet.
Anregungen vermittlet ihm numehr die Beschäftigung mit der Fotografie.
Als Ersatz für das Aktmodell, zugleich als »Gegenüber«
betrachtet Bohrmann die Fotografie, um dann alsbald mit ihr in einen gestalterischen
Dialog einzutreten. Er beobachtet, wie durch zeichnerische Ergänzungen
die Fotografie in ihrer optischen Faktizität neutralisiert, der Raum
erweitert und imginären Bereichen geöffnet wird. Verwischung,
Ergänzung, Fragmentierung bedeuten ihm Möglichkeiten, sich heutzutage
bildnerisch auf alltägliche Objekte und Situationen einzulassen,
poetische Zusammenhänge aufzuspüren. Jene Objekt-Bezogenheit
korrespondiert mit der Renaissance der Neuen Sachlichkeit, der Bohrmann
während seiner Lehrtätigkeit an der Städel-Schule (1972-80)
konfrontiert wurde und die Studenten dazu brachte, nach jahrelanger Abstinenz
wieder an die Zeichenbretter zurückzukehren, um Akt zu zeichnen.
Einen gewissen Höhepunkt erreichte diese Entwicklung Mitte der 70er
Jahre. Bezeichnenderweise wurde 1975 der »Kunstpreis junger Westen«
der Stadt Recklinghausen für Kunstwerke mit dem Thema »Akt«
ausgeschrieben.
Fragt man zusammenfassend, welchen Stellenwert diese intim-private, unaufhörlich
neu-beginnende Zeichenkunst heute für uns hat, so ist es wohl in
erster Linie die Überzeugungskraft und Authentizität des Subjektiven,
die und anrührt. Angesichts der oft lauten, selbstsicheren Attitüde
der »wilden« Malerei dieser Zeit könnte eine solche
differenzierte Zeichenweise, die Skepsis, Zweifel, Ungewißheit zur
Maxime erhebt, im Aufspüren von Gestalt, im Finden von Sprachmöglichkeiten
anstelle von Setzungen ihr Zentrum findet, leicht übersehen werden.
Die Unmittelbarkeit solcher zeichnerischen Entäußerungen, so
will es scheinen, erreicht im Erotischen ihre größte Lebensnähe.
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