"Die
Kunst ist eben ein Gewichteloswerden, das Sandabwerfen bei der Ballonfahrt.
Es geht um das Ausklinken, um diesen Moment des Segelfluges. Um das Loslassen."
Sätze von Karl Bohrmann, der kurz nach seinem siebzigsten Geburtstag
in Köln gestorben ist. Das "Gewichteloswerden" hatte er
sein ganzes Künstlerleben lang geübt, in geduldiger Wiederholung
der zeichnenden, der malenden Geste, der Gedanken über die Kunst,
so wie er sie buchstabieren wollte. Und wie kaum einem anderen gelang
es Bohrmann, seine Bilder sich in die Lüfte erheben zu lassen. Er
nahm den Gegenständen ihre Erdenschwere, ohne ihre Wiedererkennbarkeit
aufzugeben. Er löste die Farbe in einem Sfumato auf, ohne ihre Materialität
zu leugnen. An seinem vielseitigen und umfangreichen Werk könnten
sich Diskussionen entzünden, deren Spannbreite die immer aktuellen
Probleme der Kunst umfassen: über Realität und Abstraktion,
Farbe und Raum, über Zeichen und Leere.
Zu vielen Fragen hat Karl Bohrmann sich geäußert; zusammengefaßt
sind sie in den "Notizen 1972-1986" in der Edition de l'Ermitage.
Dort ist über die Realismusfrage, die Nichtidentität zwischen
Abgebildetem und Abbild zu lesen, daß er sie für sekundär
hielt. "Primär geht es um Vermittlung, Mitteilung, um Weitergabe
von Bildern, von Bildimpulsen, nicht um Wiedergabe von Information."
Das Bild kennzeichnete er als "Die Anwesenheit von Abwesenheit".
So einfach und einleuchtend diese Definitionen sind, so erläutert
er auch an einem nacherlebbaren Beispiel, was Farbe für ihn ist:
"Auf meinem Spaziergang eben schien plötzlich die Sonne durch
gelbe Bäume, die so leicht waren, daß ich einen Moment bangte,
sie könnten davonfliegen, wie Pusteblumen hinaus ins Blau..."
Angst vor "unzeitgemäßen" Ansichten hatte er nicht.
Und die Furcht vor dem Scheitern teilte er mit den besten Künstlern
von Giacometti und Bonnard bis zu Morandi, um nur drei zu nennen,
die ihm nahe waren. "Oft scheint mir bei einem Bild das, was fehlt,
die Kunst zu sein, das Mangelnde, Mangelhafte, das Unbefriedigende, die
Stärke der Herausforderung, der der Betrachter antworten, für
die er die Lösung finden muß."
Welche Themen kreist Karl Bohrmann in geduldiger Wiederholung ein, umzingelt
sie, um sie für uns sichtbar zu machen? Auch dazu notiert er einige
Sätze: "Fast wie Versatzstücke wurden mir heute die Gegenstände
meiner Ikonographie klar und fraglich: Leiter, Lampe, Fenster, Zimmer,
Glas, Frau, Strand, Schrift, Zahlen, Raum, Verwehtes, Verwischtes, Durchgestrichenes....
Selten mache ich mir deren Bedeutung und Beziehung zueinander bewußt,
während ich sie benutze. Habe ich Scheu, sie mir zu benennen, da
sie dann nur noch Zeichen blieben? Sie sind nur noch Kürzel, so daß
es nottäte, sie beim Namen zu nennen. Würden sie ihr faszinierendes
Gesicht verlieren? Ich zögere."
Das Unvollendete dieses Kunstentwurfes, das Fragmentarische, wenn man
das bei einem so großen Werk sagen kann, weist auf einen Horizont,
vor dem seine "Frau in Rot" erscheint, vor dem seine "Bäume"
sich in ewiger Gleichheit und immer vorhandener Unterschiedlichkeit erheben,
in dessen Unendlichkeit die "Leitern" steigen. Der Geist der
Romantik, aus dem Bohrmanns Arbeit gewachsen ist, leuchtet aus seinen
Bildern und aus seinen Worten. Er verleiht den Zeichnungen und
Bildern, den Collagen und Schriften diese zeitlose Gültigkeit, die
an den Kern des (Künstler-)Daseins führt.
Die Stimme des Inneren
Bohrmann zitierte Caspar David Friedrich: "Du sollst malen, was du
vor dir siehst. Siehst du es aber nicht in dir, so unterlasse zu malen,
was du vor dir siehst... Höre auf die Stimme deines Innneren. Denn
sie ist Kunst in dir." Bohrmanns Wollen war wohl das Gegenteil von
dem, was der "Zeitgeist" uns als auf die Allgemeinheit ausgerichtet
vorschreibt und selbst in das Persönlichste einbringt, das der Geist
hervorbringt, und dort als Kunstwollen propagiert. Er wünschte das
Private und stellte fest, daß wenn "du alles in dir selber
suchst; dann merkst du nämlich, daß du gar nicht so unöffentlich
bist". Dieser "umgekehrte Weg als der geforderte" führt
ihn direkt zum Individualismus der Romantik.
Sehnsucht ist ein gleichbleibendes Motiv seiner Arbeiten: Eine Rückenfigur,
die in die unendliche Weite zu schauen scheint; eine Leiter, die das Erreichen
eines grenzenlosen Nirgendwo verspricht; ein Dampfer, dessen Rauch die
Horizontlinie nachzeichnet. Die Sehnsuchtsmetaphern sind stets auch nüchterne
Protokolle der Handbewegungen beim Zeichnen, oft auf beschriebenes, bedrucktes
Papier, und beim Malen Melodien, die sich in unser Gedächtnis
schreiben. Bohrmann: "Als Junge hatte ich die einfältige Vorstellung,
daß es im Leben nichts Sinnvolleres oder jedenfalls nichts Schöneres
zu erreichen gibt, als eine Melodie zu finden und sie der Welt zu schenken.
Eine Melodie, die ich mir wie in der Luft ständig frei herumschwebend
dachte und die man in einem abzuwartenden Moment aufzufangen und nur niederzuschreiben
hätte."
Karl Bohrmann hat viele Bücher und Kataloge veröffentlicht.
In ihnen sind seine "privaten" Erfindungen (ziemlich) öffentlich
zugänglich. Ebenso in den Museen, die Werke von ihm kauften, zwischen
Mannheim (wo er 1928 geboren wurde), Stuttgart (wo er 1948-49 bei Willi
Baumeister an der Akademie studierte), München (wo er von 1959-72
lebte), Frankfurt/Main (wo er von 1972-1980 an der Städelschule Aktzeichnen
lehrte) und Köln (wo er seit einigen Jahren lebte). Eines der schönsten
Bücher ist der Essay über den Klang-Raum bei Schubert des Pianisten
Christian Zacharias, zu dem Bohrmann Zeichnungen beigetragen hat. Der
Gleichklang der Noten mit ihrer "Abwärtsbewegung als
Prinzip" und der Liedtexte des Wanderers, der Einsamkeit
mit den Zeichnungen ist von schönster natürlicher Harmonie.
Noch einmal eine Bohrmann-"Notiz" zu dem Zitat, Musik sei tönendes
Schweigen: "Es handelt sich nicht um Verschweigen, sondern um das
Schweigen, welches spricht. Nie also sprechen, um das Schweigen zu brechen,
sondern das Schweigen zum Sprechen bringen."
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