"Karl Bohrmann." In: Kunstforum International, Band 143, Januar - Februar 1999, S. 386-387.
Ausstellungsbesprechung von Jürgen Kisters.

Die Poesie des Lebens ist überall. Man muß sie nur sehen, während die Bäume sich im Wind bewegen, eine rote Gestalt durch die Gegend huscht, die Schornsteine einer Fabrik zarten Rauch in den Himmel blasen, eine Leiter an der Wand lehnt und der Tisch mit der Lampe darüber für einen Augenblick zum Sinnbild der Ruhe wird. Karl Bohrmann (Jahrgang 1928) läßt uns teilhaben an solchen Momenten, in denen der Hauch des Poetischen ihn berührt und eine stille Spur über das Papier ziehen läßt. Anläßlich des siebzigsten Geburtstages des Künstlers, der mittlerweile in Köln lebt, präsentiert die Galerie Rivet einen Überblick seiner Zeichnungen aus den letzten zwei Jahren.
„In meinen Zeichnungen würde ich gerne das Anonyme beiläufiger Skizzen von irgendwem erreichen. Keine Handschrift, nichts Temperamentvolles, Geistreiches oder sonstwie Auffälliges. Papierfetzen, darauf eine Hand Notizen hinterlassen hat, was sie festhalten, nicht vergessen oder sich vornehmen wollte,“ schreibt Bohrmann in seinen Notizen, die vor Jahren als Buch veröffentlicht wurden. Auch wenn er da noch zweifelt, scheint er diesem Ideal längst sehr nahe zu kommen – bis auf die Tatsache, daß seine Handschrift bei aller Beiläufigkeit unverwechselbar ist. Er ist ein Meister des zarten Striches, ähnlich Morandi, dem er einst eine umfangreiche Motivserie als Hommage widmete. „Wie Morandi seine Gefäße, möchte ich Figuren zeichnen,“ sagt Bohrmann und tut es. „Rote Figuren“ sind eines seiner wiederkehrenden Motive. Huschende, gesichtslose Gestalten am Strand oder zwischen angedeuteten Gebäuden, aus der Ferne betrachtet, indem sie allmählich verschwinden oder langsam sich nähern. Eine Frau in einem roten Kleid vielleicht; und schon hat man begonnen, sich zu erinnern oder eine Geschichte zu erfinden. Andere Male ist die Figur blau. Der Körper, der nur ein Schema ist, wird jeweils durch den ausgesparten Raum um ihn herum geschaffen. Bohrmann weiß um die Bedeutung von Auslassungen und den Reiz der Flüchtigkeit. Wichtig in jedem Blatt ist der offene Raum: der Schimmer einer gewissen Schwerelosigkeit und Freiheit.
Der Zeichner Bohrmann liebt offenbar den Zustand der Schwebe, des Dazwischen, in dem die Phantasie ihre erstaunlichsten Blüten treibt. Unmerklich klingt plötzlich das Meer in den Ohren, das nur ein flüchtiger Strich am Horizont ist. Wie ein Gedicht berührt einen das skizzierte Schwanken der Bäume im Wind. Und der Gelbstich des Papiers, auf dem ein Haus gezeichnet ist, führt mitten hinein in die Magie einer Vergangenheit, die immer gegenwärtig ist. Zum Teil sorgt der Zeichengrund (alte Briefe aus der Zeit der Jahrhundertwende, benutzte Schulheftseiten, Restpapier) für ein zusätzliches Flair. In der größten Unscheinbarkeit zeigt der Künstler das Geheimnis. Die Landschaft ist zum Beispiel ganz in Rot getaucht. Rote Bäume im roten Wind und im roten (Sonnen-)Licht. Ein Rot, das leuchtet und brennt, voller Ruhe und zugleich voller Aufruhr ist. Dann wieder sind die Bäume Schemen in Braun: mehrere zu einem undurchdringlichen Gewirke verwoben, oder einzeln dastehend, in unumstößlicher Größe. Ein senkrechter Linienhuscher genügt, um die Unruhe zu schaffen, die mehrere Baumkronen erst in ihrer ganzen Ruhe erscheinen läßt.
Der Atem der Beständigkeit, der Bohrmanns Zeichnungen eingehaucht ist, wird immer wieder durchzuckt von Schwüngen einer Plötzlichkeit, in der die gewohnte Erfahrung fraglich wird. „Was man macht, muß fraglich sein, wird fraglich bleiben. Und doch muß das selbstverständlich, ohne Zögern, ohne Fragen gemacht sein,“ erklärt Bohrmann. Wiedererkennen und Nicht-Wissen halten einander die Waage. Jede Zeichnung entfaltet ein ständiges Gleiten zwischen Vertrautheit und Irritation. Hinzu kommt, daß Bohrmann die gleichen Motive (Häuser, Stühle, Gefäße, Bäume, Interieurs) mit spielerischer Beharrlicheit fortwährend wiederholt. „Das Wichtige ist die Entleerung, die Gleichgültigkeit, die durch die Wiederholung dem Motiv gegenübertritt, und das fehlende Bangen ums Gelingen, das mich ganz ins Machen eintauchen, den distanzierten Überblick verlieren läßt. Und beim Wiederholen merke ich, wieviel andere Möglichkeiten noch wären,“ notiert er.
Jeder (neue) Versuch wird zum Beweis, daß der Zeichner nicht aus seinem Strich herausfallen kann. Mit der gleichen Beharrlichkeit, in der sich ein klassisch-gegenständlicher Bildansatz durch die zeichnerischen Werkgruppen hindurchzieht, äußert sich die (moderne) Eigenwilligkeit Bohrmanns. Gekonnte Ungezwungenheit, flüchtig-tastende Vorsicht und das weise Wissen der Unwissenheit erscheinen in untrennbarer Verschlungenheit. Die Hand scheint beim Zeichnen sich selbst zu führen. Wir folgen Bewegungen, lesen Spuren, erfühlen Rhythmen. Jede Zeichnung verkörpert die Lust auf die atemraubenden Möglichkeiten bewegter Zeichenstriche. Und jeder (neue) Strich ist die Aktualisierung einer (gelebten) Erfahrung, die auf keine andere Weise zugänglich wäre. „Es ist das sachte, sinnliche Berühren, Sichnähern, Inaufsichnehmen der Dinge, wonach ich verlange. Im Gegensatz zum Eindringenwollen, Greifen nach Letzlichem, Endgültigem. Mit allen Sinnen sich nähern, nicht mit dem Willen, langsam, stetig,“ erklärt Bohrmann. Inmitten einer zeitgenössischen Kunst, die zumeist bedenkenlos zugreift, stehen seine Zeichnungen für eine immer mehr verschwindende (künstlerische) Behutsamkeit und Zurückhaltung. Und so sollte man sich vor seinen Zeichnungen gelegentlich vorsagen: sei ohne Absicht, vermeide Einordnungen und Hintergedanken, laß den Blick frei schweifen. Die Augen sollen, wie wenn sie in eine Landschaft, ins Weite schauten, offen bleiben, so als schauten sie nirgendwo hin.