Saul. In: Kunst Bulletin Oktober 98
VOLKER SAUL IN DER GALERIE GABRIELE RIVET.
Von Michael Krajewski.
 

Die jüngsten Skulpturen von Volker Saul wirken wie klare, emblemhafte Silhouetten an der Wand. Sie bilden einen Blickfang und scheinen darauf angelegt zu sein, dass man sie selbst bei kurzem Hinschauen erfassen und wiedererkennen kann. Ihren markanten Formen ist nicht anzusehen, dass Saul sie in einem langen Prozess entwickelt hat, an dessen Beginn die einfachste künstlerische Tätigkeit, das Ziehen einer Linie auf dem Papier stand.
Volker Saul (*1955) präsentiert in der Galerie Gabriele Rivet zwei verwandte, doch formal unterschiedliche Gruppen seiner Wandskulpturen: Zu mehrteiligen offenen Ensembles sind jeweils fünf horizontal verlaufende Linien zueinander parallel angeordnet. Wie abstrahierte Schriftzeilen oder Textblöcke erscheinen sie an der Wand und wecken die Suggestion von Lesbarkeit- und in ihrer linearen festumrissenen Form auch von Rationalität und Strenge. Dynamisch erscheint eine zweite Gruppe von Hängeskulpturen, die jeweils aus zwei geschwungenen Linien gebildet sind. Beiden Gruppen eignet durch Reduktion auf die blockhafte Linie, durch monochrom bunte Farbigkeit und formelhafte Kürze ein singnalhafter Charakter, der nicht auf den sensibilisierten Blick angewiesen zu sein scheint.
Den geschwungenen Skulpturen ist noch am ehesten der Ursprung in der Zeichnung anzumerken. In seriell entwickelten Formulierungen, in Tausenden von Blättern, untersucht Volker Saul systematisch Duktus, Hanschrift sowie Schreibfluss und reduziert dann das Individuelle und Spontane zugunsten einer Monumentalisierung in Skulptur. So wurde aus der sensiblen Setzung eine plastische Manifestation, so wurde die Spur der ephemeren Handbewegung zum symbolhaften Formkürzel transformiert, das sich einem Markenzeichen, einem Produktsignet annähert. Diese Verschiebung scheint auch an der materialen Gestaltung ablesbar zu sein: der augenscheinlichen Perfektion der Ausführung. Aber Volker Saul hat für seine Hängeskulpturen die Konturen aus MDF -Platten selbst ausgesägt, die einzelnen Schichten verleimt, sie geschliffen und abschliessend mit farbigen Acryl überzogen.
Die handeglättete Oberfläche soll nur bis zu einem gewissen Grade die makellose Brillanz einer industriellen Produktion erreichen, gegen die er sich bewusst entschieden hat. Saul will sich nicht nur auf den Entwurf beschränken und beharrt darauf, dass die Arbeit im Atelier ablesbar bleibt: Die charakteristischen Formen seiner Skulpturen sind darauf angewiesen, in processu erprobt zu werden. Sensibel tastet sich Saul heran an die visuellen Phänomene des urbanen Lebens, die gerade durch ihre Funktionalität die Imagination oft erdrücken und die Unterscheidungsfähigkeit verkümmern lassen, da nicht Sehen oder Lesen, sondern das Auslösen von Wiedererkennen visiert ist. Dass die Wirkung zwischen skulpturalen Transformationen der bewegten oder fliessenden Linie und kompakten Manifestationen von Formkomplexen changiert, ist einkalkuliert, denn sie kann nur in der Spannung zwischen individuellem Ausdruck und der virulenten Zeichenkultur aufkommen.